Schuldenbremse auf den Tisch!
Scholz kündigt 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an. Das stellt die Schuldenbremse ein weiteres Mal in Frage. Progressive sollten das nutzen.
Sichtlich überrumpelt dreht sie sich um und schaut ihre Fraktionskollegen auf der Plenumsbank mit entgeistertem Blick an. Die Fraktionschefin der Grünen, Katharina Dröge, scheint über die großen Ankündigungen des Bundeskanzlers am Sonntag nicht informiert gewesen zu sein. Gleiches gilt für ihre Kollegen und weite Teile der SPD-Fraktion. Wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine waren alle Abgeordneten am Sonntag zu einer außerordentlichen Regierungserklärung im Bundestag zusammengekommen. Und was der Bundeskanzler da vortrug, hatte es in sich. Scholz kündigte gewaltige 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an - dazu von nun an Jahr für Jahr Ausgaben von mehr als 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung. Das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der Nato, gegen das sich SPD und Grüne lange gewehrt hatte, soll von nun an übertroffen werden. Aber wie?
Noch eine Ausnahme
Die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sollen noch dieses Jahr aufgenommen und in ein Sondervermögen überführt werden. Das Sondervermögen ist quasi ein Geldtopf neben dem regulären Haushalt, der einmalig aus dem Verkauf von Staatsanleihen gefüllt wird. Ausgegeben wird das Geld nicht auf einen Schlag, sondern im Laufe der nächsten Jahre. Wann genau und wofür genau, steht noch nicht fest. Vermutlich werden es rund 20 Milliarden pro Jahr, um das 2-Prozent-Ziel der Nato zu erfüllen. Aber steht dem nicht die Schuldenbremse im Weg?
Eigentlich schon. Denn die Schuldenbremse ist zwar dieses Jahr noch ausgesetzt, allerdings nur für Ausgaben, die im Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Das Grundgesetz erlaubt die Aussetzung bei "Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen". Darunter fällt die Pandemie, die marode Bundeswehr aber nicht. Die 60 Milliarden, die kürzlich für den Klimafonds beschlossen wurden, konnte die Ampel noch über Umwege mit ausgelassenen Investitionen durch die Pandemie begründen. Eine argumentative Krücke, na klar. Für die Bundeswehrmilliarden braucht es aber eine andere Krücke. Die sieht so aus, dass das Sondervermögen der Bundeswehr im Grundgesetz verankert werden soll. Eigentlich ist das für Sondervermögen gar nicht nötig, da reicht auch ein Gesetz mit einfacher Mehrheit, doch die Grundgesetzverankerung hilft bei der Umgehung der Schuldenbremse. Denn die Anrechnung auf die Schuldenbremse kann so im Gesetz ausgeschlossen werden. Und ganz nebenbei will die Ampel so sicherstellen, dass die 100 Milliarden auch wirklich nur für die Bundeswehr ausgegeben werden - und nicht in 4 Jahren für andere Belange abgezogen werden.
Damit steht die zweite milliardenschwere Umgehung der Schuldenbremse in kurzer Zeit im Raum. Schon im Koalitionsvertrag hatte sich abgezeichnet, dass die Ampel die Schuldenbremse politisch ad absurdum führen wird. Um die Milliarden aus dem Klimafonds auch wirklich auszugeben, wenn die Schuldenbremse 2023 wieder gilt, hat die Ampel eine technische Regeländerung vorgenommen. Und zwar eine, nach der zukünftig für die Einhaltung der Schuldenbremse nur noch relevant ist, wann Geld in ein Sondervermögen hineinfließt - und nicht mehr, wann Geld herausfließt. Das klingt nach lästigem Detail, ist aber von entscheidender Bedeutung. Weil die Schuldenbremse 2022 noch ausgesetzt ist, kann die Ampel gerade Töpfe abseits des regulären Haushalts füllen, um das Geld in den nächsten Jahren an der Schuldenbremse vorbei auszugeben.
Heißt aber auch: Der reguläre Haushalt wird durch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben erst einmal nicht belastet. Die 100 Milliarden für die Bundeswehr machen auch unter den Bedingungen der Schuldenbremse keine Einsparungen an anderer Stelle nötig. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den selbst der Parlamentarische Staatssekretär von Finanzminister Linder, Florian Toncar, gegenüber Reuters implizit bestätigt:
“Die Kreditaufnahme zur Ausstattung des Sondervermögens wird in voller Höhe im Jahr 2022 verbucht werden, zusätzlich zur Kreditaufnahme im Bundeshaushalt. Daher bestehen keine Auswirkungen des Sondervermögens auf die nach der Schuldenbremse zulässigen Obergrenzen für die Kreditaufnahme ab 2023.”
Die Lügen der Schuldenbremse
Jahrelang wurde uns erzählt, dass für Investitionen in Klima und Infrastruktur schlicht das Geld fehle. Dann machte Deutschland 450 Milliarden Euro Schulden für die Pandemie und jetzt schüttelt Olaf Scholz 100 Milliarden für die Bundeswehr aus dem Ärmel. Wenn die Schuldenbremse dem politischen Willen im Weg steht, wird sie umgangen - selbst mit einem ideologischen Überzeugungstäter wie Christian Lindner. Vor zwei Wochen erklärte Christian Lindner in der Regierungsbefragung noch, wie knapp die Mittel im Haushalt sind, nachdem man Entlastungen für die hohen Energiepreise beschlossen habe. Nicht jeder Wunsch sei mehr erfüllbar. Im Video habe ich auf die Befragung reagiert.
Wir müssen festhalten: Die Regierungen waren unehrlich, die Kürzungen waren unehrlich, die Politik der Schuldenbremse war unehrlich. Nie ging es um fehlendes Geld, immer ging es um fehlenden politischen Willen - und um nichts anderes. Schäuble, Scholz, und Co. waren auch dann unehrlich, als sie darauf gepocht haben, dass krisengebeutelte Länder wie Griechenland und Italien regeltreu sein und der Regeln wegen schmerzhafte Kürzungsprogramme fahren sollten. Der Irrsinn der Schuldenbremse wird spätestens jetzt offensichtlich, selbst bis weit in die Mainstreampresse. Im Handelsblatt etwa schrieb der Redakteur Julian Olk:
“Durch die Bildung eines Sondervermögens mit den 100 Milliarden Euro, die Scholz einfach ins Grundgesetz schreiben will, umgeht der Kanzler jene Schuldenregel – was diese ad absurdum führt. Es braucht eine umfassende Reform. Eigentlich sind gesonderte Geldtöpfe neben dem Haushalt für außergewöhnliche Ausgaben vorgesehen. Die bedingte Abwehrbereitschaft der Bundeswehr aber folgt aus jahrelanger Misswirtschaft. Wer das nicht erkennt, hat wohl Tomaten auf dem Feldstecher. Das weiß auch Scholz und gesteht so ein, dass er aufgrund der Schuldenbremse nicht einmal die ureigenste Aufgabe des Staates finanzieren kann. Ein deutlicheres Zeichen für die Notwendigkeit einer Reform kann es nicht geben.”
Doch Finanzminister Lindner hält bisher an alten Überzeugungen fest. Womöglich um in sein Standing in der FDP zu retten und weil der öffentliche Druck noch längst nicht groß genug ist. Der Spiegel berichtet, dass Lindners Beamte zwischenzeitlich darüber diskutierten, das zusätzliche Geld für die Bundeswehr über den regulären Bundeshaushalt aufzubringen. Lindner war aber explizit dagegen, weil die Schuldenbremse dann ab 2023 nicht einzuhalten wäre und reformiert werden müsste. Das will er vermeiden. Auch weil er inhaltliche Widersprüche rhetorisch umschiffen kann. Im Bundestag erklärte Lindner:
“Eine mindestens fünfzehnjährige Vernachlässigung der Bundeswehr kann man nicht aus dem laufenden Haushalt korrigieren.“
Die 100 Milliarden für die Bundeswehr seien „in dieser Weltlage zunächst Investitionen in unsere Freiheit“, so der Finanzminister. In der Opposition wäre die FDP noch auf die Barrikaden gegangen, wenn Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro - egal für welchen Zweck - als Freiheitsinvestitionen abgetan worden wären.
Die wirklich spannende Frage ist aber: Wie sollten Progressive auf all das reagieren?
Ran an die Schuldenbremse
Selten war das Momentum gegen die Schuldenbremse stärker. Wenn SPD und Grüne sich schon zum Teil einer 2/3-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung hergeben, dann doch bitte auch die Schuldenbremse mitverhandeln. Wenn man schon ans Grundgesetz geht, dann doch bitte an die Schuldenbremse selbst. Dann doch so, dass die 100 Milliarden für die Bundeswehr schuldenbremsenkonform ausgegeben werden können, etwa indem öffentliche Investitionen grundsätzlich von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Wenn die Schuldenbremse jetzt nicht auf den OP-Tisch kommt, wann dann?
Gerade die Grünen könnten ja die Karte spielen, dass sie vom 100-Milliarden-Plan im Vorfeld nichts gewusst haben, so denn die Berichterstattung stimmt, und deshalb eigene Forderungen erfüllt haben möchten. Immerhin hatten SPD und Grüne beide die Reform der Schuldenregeln in ihren Wahlprogrammen. Zurecht sagte die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus:
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