Denken wie ein Makroökonom II
Vier goldene Regeln, die jeder kennen sollte, der sich für Wirtschaft und Politik interessiert.
Was für einen Bäcker schlecht ist, kann für alle Bäcker gut sein. Wenn Bäcker Lutze die Löhne seiner Angestellten erhöhen muss, steigen seine Kosten – und sinken seine Profite. Schlecht fürs Geschäft, oder? »Klar!« würde Lutze sagen und Zustimmung von jedem BWL-Studenten bekommen. Zurecht!
Als Makroökonom aber blickt man anders auf die Sache. Für Bäcker Lutze sind Löhne nur Kosten, für die Wirtschaft als Ganzes aber auch Einkommen und Nachfrage. Wenn die Löhne steigen, haben seine Kunden mehr Geld; dann kann Bäcker Lutze mehr Brötchen und Friseur Müller mehr Haarschnitte verkaufen – und am Ende sogar größere Profite machen.
Weil wir im Alltag nicht makroökonomisch denken, hier vier goldene Regeln, die jeder kennen sollte. Wer die Regeln aus Teil 1 noch nicht kennt, sei hier zum Lesen eingeladen.
#1 Löhne sind nicht nur Kosten, sondern auch Einkommen
Bleiben wir bei Bäcker Lutze. Die Devise eines jeden Betriebs: Erlöse maximieren, Kosten minimieren. Höhere Löhne bedeuten höhere Kosten für seinen Betrieb. Allerdings kann Bäcker Lutze ja nur verkaufen, wenn seine Kunden Geld haben. Dafür brauchen sie Einkommen, sprich: Löhne. Je höher das Einkommen, desto mehr können die Kunden kaufen. Betriebswirtschaftlich ist Lutzes Interesse also ein anderes als volkswirtschaftlich. Er wünscht sich geringe Lohnkosten, aber kaufkräftige Kunden. Wenn er selbst möglichst niedrige Löhne zahlt, aber seine Kunden möglichst hohe Löhne verdienen, ist das ideal für sein Geschäft.
Weil jeder Betrieb aber nach sich selbst schaut und nicht auf die Wirtschaft als Ganzes, kann nur die Politik diesen Interessenskonflikt lösen. Bäcker Lutze kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Nachfragesumpf ziehen, das muss die Politik schon machen. Bestes Beispiel: die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro. Für mehr als sechs Millionen Menschen war das eine satte Lohnerhöhung. Das zusätzliche Einkommen tragen die Empfänger wieder in die Geschäfte, etwa zu Bäcker Lutze, und ermöglichen durch die höhere Nachfrage auch höhere Absätze, mehr Produktion, mehr Jobs und mehr Wohlstand.
Auch das hat aber natürlich eine Grenze: nämlich Vollbeschäftigung und Produktivität. Wenn Bäcker Lutze mehr Brötchen verkaufen könnte, aber keine Angestellten mehr findet, weil alle längst Arbeit haben, führt die überschüssige Nachfrage eher zu steigenden Preisen als zu mehr Produktion. Steigt hingegen die Produktivität – kann also mit denselben Ressourcen mehr hergestellt werden –, müssen auch die Löhne steigen. Denn nur dann gibt es die zusätzliche Nachfrage, die Bäcker Lutze auch tatsächlich veranlasst, mehr Brötchen zu backen und verkaufen.
Randnotiz: Bei Export-Firmen, die in Deutschland produzieren, aber ins Ausland verkaufen, sieht die Interessenslage anders aus. Bei denen verursacht ein höherer Lohn nur Kosten, aber keine zusätzliche Nachfrage. Export-Firmen haben also weder ein betriebswirtschaftliches noch ein volkswirtschaftliches Interesse an steigenden Löhnen. Die klagen deshalb immer besonders laut, wenn es um höhere Löhne geht.
Leider ist es aber unter vielen Ökonomen und Politikern noch nicht angekommen, dass Löhne eben nicht nur Kosten sind. Noch immer dominiert darum der Irrglaube: Wenn es zu viel Arbeitslosigkeit gibt, muss man Arbeit nur billiger machen. So wie Bäcker Lutze seine Brötchen billiger machen könne, um mehr zu verkaufen, solle die Politik Arbeit billiger machen, damit Arbeitgeber mehr Menschen einstellen. Dieses gewiss neoliberale Rezept wurde so in der Griechenlandkrise angewendet.
2010 lag die Arbeitslosigkeit bei 12,7 Prozent. Dann kamen Wolfgang Schäuble, Christine Lagarde und Jeroen Dijsselbloem – zu der Zeit also der deutsche Finanzminister, die IWF-Chefin und der Chef der Eurogruppe – und verordneten Griechenland Kürzungen. Ausgaben wurden gestrichen, Staatseigentum privatisiert, scharenweise Staatsangestellte entlassen, Arbeitnehmerrechte beschnitten und Löhne radikal gekürzt. Der IWF prognostizierte, dass Griechenland so wieder zu Wachstum, weniger Staatsschulden und weniger Arbeitslosigkeit käme. Das Experiment ist krachend gescheitert. Die Arbeitslosigkeit explodierte auf fast 30 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit schoss auf 50 Prozent, die Wirtschaft schmierte ab, der Schuldenstand stieg an. In der Grafik sieht man, wie peinlich weit die IWF-Prognose daneben lag.
Kein Wunder. Wenn die Löhne um 30 Prozent gekürzt werden, haben die Menschen 30 Prozent weniger Einkommen, dann geben sie 30 Prozent weniger aus, die Firmen verkaufen 30 Prozent weniger, kürzen ihre Produktion und entlassen scharenweise Mitarbeiter, um Kosten zu sparen. Die Kürzungen bei den Löhnen haben zwar die Produktionskosten gesenkt, aber eben auch die Nachfrage gekappt. Griechenland hat sich davon bis heute nicht erholt, Christine Lagarde darf aber als Chefin der Europäischen Zentralbank ein Millionengehalt scheffeln. Weder sie noch Schäuble haben sich jemals für die dilettantische Politik entschuldigt. Es ist zum Schreien.
Wir halten fest: Ein guter Makroökonom sieht Löhne nicht nur als Kosten, sondern auch als wichtigste Quelle für Einkommen und Nachfrage.
#2 Zinsausgaben = Zinseinnahmen
Kleiner Themensprung für Regel Nr. 2.
Christian Lindner klagt, dass er dieses Jahr 40 Milliarden für Zinsen ausgeben muss. Das sei schlecht, weil das Geld woanders fehle. Erstens fehlt das Geld nur woanders, weil die Schuldenbremse die Spielräume politisch verengt, nicht weil Lindner nicht an Geld käme. Geld ist bekanntlich ja nicht knapp. Schuld an dem Problem für den Haushalt ist also die politische Regel, nicht die Zinsen. Und zweitens sind die Zinsen nicht nur eine Last für den Haushalt, sondern auch ein Segen für wen anders.
Wie in Teil 1 erklärt sind die Ausgaben des einen immer auch die Einnahmen eines anderen. Das gilt auch für Zinsen. Weil die EZB die Zinsen angehoben hat, überweist Lindner dieses Jahr 40 Milliarden an die Halter von deutschen Staatsanleihen; an Banken, Versicherungen, Fonds, die EZB und einige wenige Vermögende.
Zinsen sind erst einmal Ausgaben wie alle anderen Staatsausgaben auch. Und sie werden genauso aus dem Haushalt bezahlt wie alle anderen Ausgaben auch. Wer behauptet, ein Staat ginge pleite, wenn er hohe Zinsen in eigener Währung zahlen muss; der müsste die gleiche Sorge auch bei Rentenzuschüssen oder anderen Ausgaben haben.
Der entscheidende Unterschied ist ein anderer: Zinsausgaben sind ungezielte und unproduktive Ausgaben. Sie fließen an die Halter der Anleihen, überwiegend an Finanzmarktakteure, die das Geld größtenteils nur neu am Finanzmarkt anlegen. Der Großteil versickert, nur ein Bruchteil landet bei Bäcker Lutze und Friseur Müller in der Realwirtschaft und schafft dort Produktion oder neue Jobs. Wegen der 40 Milliarden an Zinsen andere Ausgaben zu streichen, ist deshalb schlecht für die Konjunktur. Wer das vermeiden will, sollte die Schuldenbremse, die Zinserhöhung der Zentralbank oder die Praxis des Anleiheverkaufs kritisieren – nicht aber stumpf auf den Schuldenstand schimpfen.
Fun-Fact: Weil die EZB ihre Gewinne am Jahresende an ihre Eigentümer ausschüttet, fließen die Zinsen, die Lindner an die EZB zahlt, wieder in den Staatshaushalt zurück – rechte Tasche, linke Tasche. Das betrifft rund ein Drittel aller deutschen Anleihen.
#3 Der Fluss macht die Preise
Ökonomen unterscheiden Fluss- und Bestandsgrößen. Flussgrößen sind zum Beispiel Ausgaben. Wenn ich Brötchen kaufe, fließt Geld von mir zum Bäcker. Wenn ich spare, fließt kein Geld. Das Gegenteil ist die Bestandsgröße. Da fließt nichts, da liegt nur etwas rum. Die bekannteste Bestandsgröße: Geld. Bestandsgrößen machen nichts, Geld macht nichts, es liegt im Geldbeutel oder auf dem Bankkonto, aber es macht und bewirkt nichts. Um etwas zu bewirken, müssen Bestandsgrößen zu Flussgrößen werden. Geld muss also ausgegeben werden. All jene, die von Geldmenge auf Inflation schließen, begehen diesen Logikfehler.
Der polnische Ökonom Michael Kalecki hat dazu den schönen Satz geprägt: »I have found out what economics is; it is the science of confusing stocks with flows«. Übersetzt: Ich habe herausgefunden, was die Ökonomik ist; die Wissenschaft über das Verwechseln von Fluss- und Bestandsgrößen.
Wer Preise erklären will, sollte die Geldmenge links liegen lassen. Ausführlich habe ich hier dazu schon einmal geschrieben.
#4 Exportüberschüsse = Konsumverzicht
Achtung, jetzt geht’s an die deutsche Identität. In keinem Land werden schließlich Exportüberschüsse so gefeiert wie in Deutschland. Vor lauter Jubel geht eine Einsicht unter: Wer mehr exportiert als importiert, lebt unter seinen Verhältnissen. Ja, Deutschland lebt seit zwei Jahrzehnten ökonomisch unter seinen Verhältnissen (ökologisch natürlich weit darüber, anderes Thema). Anders gesagt: Uns könnte es materiell viel besser gehen!
Warum, ist schnell erklärt. Stellen wir uns unseren materiellen Wohlstand bildlich als Stapel von Waren vor. Dieser Stapel besteht aus allem, was im Inland produziert wird, plus allem, was aus dem Ausland importiert wird, minus allem, was in das Ausland exportiert wird.
Materieller Wohlstand = inländische Produktion + Importe - Exporte
Exporte machen den materiellen Stapel kleiner, Importe machen den Stapel größer. Weil wir mehr an unsere Handelspartner verkaufen als von dort einkaufen, verkleinern wir unseren Stapel, sprich: unseren Wohlstand. Heißt auch: Wir stecken Zeit, Energie und Schweiß in die Produktion, die andere letztlich konsumieren. Und das seit zwei Jahrzehnten. Im Gegenzug dafür bekommen wir Geld. Geld, mit dem wir eigentlich bei unseren Handelspartnern einkaufen könnten, aber nicht machen.
Statt Güter gegen Güter, tauschen wir Güter gegen Geld. Und sind froh, dass wir in Deutschland mehr Jobs und Einkommen haben. Wofür aber denn am Ende, wenn wir nicht importieren? Produktion ist ja kein Selbstzweck. Wir produzieren, um zu konsumieren. Das wusste schon Adam Smith: »Der Konsum ist der einzige Sinn und Zweck der Produktion, und den Interessen der Produzenten sollte man nur insoweit Beachtung schenken, als nötig ist, die der Verbraucher zu fördern«. Und freilich ist es nicht so, dass es in Deutschland nichts zu tun gäbe. Arbeit gäbe es genug, allein um die Energiewende zu bewältigen. Exportwahn allein der Jobs wegen ist kein kluger Grund.
Warum Deutschland Exportüberschüsse trotzdem abfeiert, wer in Deutschland davon profitiert und wer nicht, darüber ließen sich Seiten füllen. Ebenso über die Konsequenzen aus der Einsicht.
Sollten wir mehr importieren? Ja. Wie gelänge das? Höhere Löhne, mehr Investitionen, stärkere Binnenwirtschaft. Oder sollten wir gar weniger exportieren? Vielleicht. Denn gerade nutzen wir unsere “knappen” Fachkräfte, um BMWs zu exportieren, dabei könnten Ingenieure auch die Energiewende in Deutschland wuppen. Reale Ressourcen sind bekanntlich knapp und wollen bestmöglich eingesetzt werden. Die auf Exportwahn getrimmte Wirtschaft nützt aber mehr den Aktienkursen von BMW-Erbin Susanne Klatten als Bäcker Lutze und seinen Angestellten. Dabei ist natürlich BMW keinen Vorwurf zu machen, der Politik aber schon, weil sie die Weichen falsch stellt.
Führte man die Debatte um deutsche Exportüberschüsse als Debatte um Verzicht und Wohlstandsminderung statt als Jobmotor, ließe sich den lauten Jubelschreien vielleicht etwas Wind aus den Segeln nehmen und klügere Politik machen. Als Deutschland nach dem ersten Weltkrieg sich für die Reparationen dumm und dusselig exportieren musste, war genau das noch die Debatte; heute scheint das vergessen. Überhaupt: Die Kriegsverlierer müssen produzieren und zur Entschädigung Güter an die Gewinner liefern; die wiederum erfreuen sich der Importe – nicht andersherum. Mal sacken lassen den Gedanken.
Diese erklärenden Beschreibungen sind von sollch simpler und bestechender Logik, dass man sich fragen muss wie diese Vorgänge so erfolgreich vernebelt werden können. Die neoliberalen Narative werden mit einem immensen Aufwand so intensiv in die Gesellschaft einmassiert, dass dies nur wenige hinterfragen.
Regt zum Nachdenken an; Kritik ist sachlich; historische Vergleiche werden aufgezeigt. Toller Artikel!