Rollende Panzer, eingefrorene Konten
Die erste und exklusive Leseprobe aus meinem neuen Buch: »Der neue Wirtschaftskrieg«
Bald ist es soweit. »Der neue Wirtschaftskrieg« ist im Druck und findet ab dem 17. November den Weg in eure Bücherregale. In 276 Seiten geht es um die Chronologie des Wirtschaftskrieges. Und um solche Fragen: Wie funktionieren die Sanktionen, wo schlagen sie ein und wen treffen sie? Welche Rolle spielen dabei Zentralbanken, Energieriesen und Steueroasen? Hier jetzt der Einstieg in das Buch als exklusive Leseprobe.
Sonntags in Berlin. Der Bundestag trifft sich zur Sondersitzung. Aus ganz Deutschland sind die Abgeordneten aus ihren Wahlkreisen angereist. Auch die Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung schieben Sonderschichten. Ohne Techniker, Stenographen, Plenarassistenten und Sicherheitskräfte geht im hohen Haus nämlich nichts. Grund der Sondersitzung: Wladimir Wladimirowitsch Putin. So heißt Russlands Präsident mit vollem Namen. Putin überfällt seinen Nachbarn. Seit drei Tagen fliegen russische Raketen auf ukrainische Städte. »Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents«, beginnt Bundeskanzler Olaf Scholz seine Rede. Ein historischer Moment. Und viel mehr eine Rede an die Nation als eine Rede an den Deutschen Bundestag. Scholz wiederholt: »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« Insgesamt fünfmal benutzt er in seiner dreißigminütigen Rede den Begriff »Zeitenwende« und macht ihn damit wahrscheinlich zum Symbol für seine Kanzlerzeit. Scholz’ »Zeitenwende« ist das »Es ist ernst« von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese Worte wählte Merkel am 18. März 2020 in ihrer TV-Ansprache zur Corona-Krise. Wohlgemerkt: In der einzigen spontanen TV-Ansprache während ihrer gesamten 16-jährigen Amtszeit. Den Worten folgten Taten. Kurz darauf trat der erste Lockdown in Kraft. Und auch Scholz versprach, seiner Zeitenwende Taten folgen zu lassen: hundert Milliarden für die Bundeswehr, ab sofort jedes Jahr mehr als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung, Waffenlieferungen an die Ukraine und Wirtschaftssanktionen gegen Russland. All das hat die politischen Koordinaten verändert: die Russlandpolitik der SPD, das Erbe von Angela Merkel, den Pazifismus der Grünen und den staatlichen Sparwahn der FDP. Zumindest vorübergehend. Denn Energiepolitik sei jetzt Sicherheitspolitik, so der Kanzler. Wind- und Solarkraft heißen jetzt »Freiheitsenergien «, in die massiv investiert werden müsse, so Finanzminister Christian Lindner in seiner Rede. Und auch Deutschland komme nicht mit »sauberen Händen« aus einem Krieg in Europa, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck. Während die Bundespolitik sich schüttelt, demonstrieren am Sonntagmittag Hunderttausende am Brandenburger Tor, wenige hundert Meter vom Bundestagsplenum entfernt. Für Frieden, gegen Krieg. Für die Ukraine, gegen Putin. Viele mit blau-gelben Fahnen.
Vier Tage zuvor in New York. Das wichtigste Gremium der Vereinten Nationen (UN) ist am späten Mittwochabend zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen – auf Wunsch der Ukraine. Das Treffen des Sicherheitsrates wurde einberufen, um den Krieg zu verhindern. Auslöser war die letzte Provokation Putins vor dem vollständigen Einmarsch. Er hat die beiden Separatistengebiete Luhansk und Donezk in der Ost-Ukraine als unabhängige »Volksrepubliken« anerkannt und gleichzeitig mit Vertretern der prorussischen Gebiete einen Vertrag abgeschlossen, der die Stationierung russischer Soldaten umfasst. Aus Sicht der Ukraine heißt das: Russische Soldaten im eigenen Land. Während vorher viele nicht mit einem Einmarsch Putins gerechnet hatten, kippt spätestens damit die Stimmung. Im Vorfeld der Sitzung nannte die US-amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield den Schritt als »Vorwand für eine weitere Invasion der Ukraine«. Sie sollte Recht behalten. Die Sitzung wird in die Geschichtsbücher eingehen. Im Nachhinein könnte man meinen, sie wär für einen schlechten Film so geskriptet worden. Als der Gong ertönt, um die Sitzung zu eröffnen, ergreift der russische Vertreter Wassili Nebensja das Wort. Er leitet die Sitzung, weil Russland im Februar 2022 turnusmäßig der Vorsitz des Sicherheitsrates zufällt. Was für ein Hohn, mag man denken. Nebensja, 60 Jahre alt, war von 2013 bis 2017 stellvertretender Außenminister Russlands. Seitdem ist er Putins Botschafter bei der UN. Dort hat er den Ruf eines »hartleibigen wie scharfzüngigen Diplomaten«. Fast zeitgleich mit Beginn der Sitzung verkündet Putin den Beginn des Einmarsches. UN-Generalsekretär António Guterres, sozusagen Chef der Vereinten Nationen, sitzt direkt neben Nebensja. »Ich dachte, es wird nichts Ernstes passieren. Und ich lag falsch«, folgert Guterres in seinem Eingangsstatement. An Russlands Machthaber gerichtet sagt er: »Präsident Putin, im Namen der Menschlichkeit: Bringen Sie Ihre Truppen zurück nach Russland!« Dann ist der ukrainische Botschafter dran. »Es ist zu spät, meine lieben Kolleginnen und Kollegen“, sagt der ukrainische Botschafter Sergiy Kyslytsya mit einem Gesicht aus Frust und Verzweiflung. Sein vorbereitetes Statement sei jetzt längst »nutzlos« geworden. Er habe den russischen Botschafter eigentlich vor laufender Kamera fragen wollen, ob er versprechen könne, dass russische Truppen nicht auf Ukrainer schießen werden. Das habe sich vor 48 Minuten erübrigt. Aufgebracht, mit lauter Stimme, aber um Fassung ringend, fordert er alle Anwesenden auf, »alles zu tun, um diesen Krieg zu stoppen.« Nebensja, der russische Vertreter, solle gefälligst sofort sein Handy nutzen, um Putin und Außenminister Sergei Lawrow in Russland anzurufen, damit die Aggression gestoppt werde. Nebensja aber wiegelt mit eiskalter Miene ab. Er habe bereits alles gesagt und habe außerdem nicht vor, den Außenminister zu wecken. Zynische Szenen. Wenig überraschend verfolgt auch Nebensja die bis heute geltende russische Sprachregelung, wonach Russland keinen Angriff oder gar Krieg gegen die Ukraine führe, sondern eine militärische Spezialoperation im Donbass umsetze – zur Befreiung der ukrainischen Bevölkerung. Macht der Propaganda. Deutschland hat zu diesem Zeitpunkt keinen Sitz im Sicherheitsrat, ist aber wegen der besonderen Vermittlerrolle im Konflikt zwischen beiden Ländern als Gast geladen und durch die UN-Botschafterin Antje Leendertse vertreten. Leendertse, 59 Jahre, vorher Staatssekretärin von Ex-Außenminister Heiko Maas und erst seit wenigen Monaten als UN-Diplomatin für Deutschland tätig, verurteilt den Angriff als Bruch des Völkerrechts und kündigt Russland schwere Konsequenzen an: »Die russische Aggression wird politisch, wirtschaftlich und moralisch einen beispiellosen Preis haben.« Als die Sitzung etwas mehr als eine Stunde alt ist, erreicht die nächste Hiobsbotschaft die hitzige Runde: Russische Raketen fallen auf die Ukraine. Der ukrainische Botschafter erhält ein weiteres Mal das Wort. Sein letzter Satz an Nebensja: »Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher. Sie fahren direkt zur Hölle, Botschafter!« Danach beendet Nebensja die Sitzung. Guterres verlässt sichtlich bewegt den Raum. Das sei der »traurigste Moment« in seinem Dienst als Generalsekretär der Vereinten Nationen, resümiert der Generalsekretär.
Zeitgleich in der Ukraine. Betäubend laute Explosionen, grelles Feuer, tiefdunkle Rauchschwaden, schrille Sirenen. Der russische Angriff hat begonnen. Im Morgengrauen fallen Raketen auf die ukrainische Infrastruktur, fliegen Hubschrauber mit Fallschirmjägern über die Städte, passieren Panzerkolonnen die Grenzen. Ukrainer werden aus ihren düsteren Vorahnungen in eine traumatische Wirklichkeit gerissen. Kinder, die sich aus Angst unter der Bettdecke verstecken. Mütter, die panisch Fenster schließen und Nachrichten einschalten. Feuerwehrkräfte, die Brände löschen. Polizisten, die Überreste von Raketen inspizieren. Soldaten, die bereits ausrücken müssen. Männer, die jetzt womöglich Soldaten werden. Die Normalität hat ein jähes Ende gefunden. Der Alltag ist vorbei. In Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, füllen sich die Luftschutzbunker und die Straßen mit Menschen. Auch hier gab es Explosionen. Nach kurzer Zeit sind die Wege, die aus Kiew herausführen, verstopft. Ebenso die Bahnhöfe. Tausende greifen ihre nötigsten Sachen und versuchen zu fliehen. Ein paar Klamotten, die wichtigsten Wertgegenstände, Bargeld, den Hund, die Katze, ein Kuscheltier für die Tochter, mehr geht nicht. Der Rest wird zurückgelassen. Für wie lange, ist zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar. Lange Schlangen an den Tankstellen und vor den Bankautomaten. Benzin und Bargeld drohen auszugehen. Luke Harding, Journalist beim britischen Guardian und als Korrespondent in Kiew, beschreibt die Stimmung am frühen Morgen auf dem Nachrichtendienst Twitter als »eine Mischung aus Angst, Schock und stillem Trotz«. Erst am Vorabend hat das ukrainische Parlament mit großer Mehrheit den landesweiten Ausnahmezustand beschlossen. Das ist nötig, um Ausgangssperren und Zwangsräumungen zu verhängen sowie Schutzvorkehrungen etwa für öffentliche Einrichtungen zu treffen. Am selben Abend, wenige Stunden vor dem Einmarsch, wendet sich Präsident Wolodymyr Selenskyj noch mit einer Fernsehansprache an die russische Bevölkerung – in russischer Sprache. »Ich habe heute versucht, mit dem Präsidenten Russlands zu telefonieren. Die Antwort war: Stille. Stille aber sollte im Donbass herrschen. Daher möchte ich mich heute an alle Bürger Russlands wenden«, beginnt Selenskyj. Er beschreibt die gefährliche Lage: »Die kleinste Provokation, der kleinste Funke – und alles kann in Flammen stehen.« Er versucht, die russische Propaganda zu entkräften. Doch seine Rede zeigt keine Wirkung. Stunden später muss Selenskyj das Kriegsrecht verhängen und die Generalmobilmachung ausrufen. Wehrpflichtige und Reservisten werden in die Armee berufen. Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Deshalb sind es vor allem Frauen und Kinder, die fliehen. In Zahlen: Von den rund 610.000 Ukrainern, die bis Ende April 2022 nach Deutschland flüchten, sind 40 Prozent Kinder. Und 80 Prozent der Erwachsenen wiederum sind Frauen. In den Tagesthemen vom 24. Februar 2022 berichtet eine Dolmetscherin aus Kiew unter Tränen, dass ihr 24-jähriger Sohn, eigentlich Designer, freiwillig zur Armee geht und nicht bei der Familie bleibt. Dieses Einzelschicksal ist nur ein Beispiel für Millionen Ukrainer, die an diesem Tag gezwungen sind, harte Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen, die am Ende über Leben und Tod bestimmen, über das Glück und Unglück ganzer Familien und letztlich über das Schicksal der gesamten Ukraine. Paare müssen sich an Bahnhöfen verabschieden. Sie flieht vor den Bomben. Er muss Bomben in einem zu diesem Zeitpunkt aussichtslosen Kampf stoppen. Der Schrecken des Krieges hat viele trauernde Gesichter. Allein an diesem ersten Tag verlieren 130 Ukrainer ihr Leben. Viele weitere sind verletzt oder traumatisiert, Hunderttausende nun auf der Flucht. Die ukrainische Armee gilt als unterlegen. Präsident Selenskyj fordert eine weltweite Anti-Putin- Koalition. Per Videobotschaft richtet er sich an sein Land: »Wir haben die Weltführer aufgerufen, alle möglichen Sanktionen gegen Putin zu betätigen, eine massive Verteidigungsunterstützung in die Wege zu leiten, den Luftraum über der Ukraine für den Aggressor zu schließen.« So wird es kommen.
Zwei Tage zuvor in Paris. Die Außenminister der Europäischen Union (EU) treffen sich. Schon wieder. Am Tag vorher schon war man zum üblichen Außenministertreffen in Brüssel zusammengekommen. In Paris aber ist für 16 Uhr ein informelles Treffen aus dringenden Gründen anberaumt. Es geht um Sanktionen gegen Russland. Die EU-Kommission hatte wochenlang an einer Sanktionsliste gefeilt. Für den Fall der Fälle. Und dieser trat in dem Moment ein, als Putin die Separatistengebiete als unabhängige Republiken anerkannt und russische Soldaten entsandt hatte. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ schon einige Tage vorher verkünden, die EU-Sanktionen seien »abschließend vorbereitet«. Diskutiert wird in Frankreichs Hauptstadt nun über die Frage, welche Sanktionen von der Liste schon jetzt verhängt werden sollen – und welche Pfeile noch im Köcher bleiben. Einige Stunden verbringen die 27 Minister über der Liste. Vor allem die baltischen Staaten pochen auf Sanktionen, die so scharf wie möglich sein sollen. Zur Abschreckung. Deutschland und Frankreich wollen das Gegenteil. Ein klares Zeichen senden, aber nicht alles auf den Tisch legen. Am Ende wird das Paket einstimmig beschlossen. Die militärische Aggression Russlands wird mit einer finanziellen Aggression der EU gekontert. Anders gesagt: Mit diesem ersten von sieben aufeinanderfolgenden Sanktionspaketen bis Ende Juli 2022 beginnt der Wirtschaftskrieg. Mit dem ersten Paket wird der Handel russischer Staatsanleihen verboten. Das Gleiche gilt für quasi alle Geschäfte mit Firmen und Personen aus den Separatistengebieten im Osten des Landes. Handel mit Waren, Immobilien, Finanz- oder Tourismusdienstleistungen sind gleichermaßen betroffen. Die 351 Abgeordneten der russischen Staatsduma, die am Vortag für die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk stimmten, kommen auf die EU-Sanktionsliste. Ebenso auf der Liste stehen hochrangige Militärs und einige Mitglieder der Regierung, etwa der Verteidigungsminister Sergei Shoigu oder Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow – jedoch nicht Außenminister Lawrow oder Präsident Putin. Nicht an jenem 22. Februar 2022. Außerdem werden einige wichtige Journalisten und Geschäftstreibende auf die Liste gesetzt. Zum Beispiel die Chefredakteurin von Russia Today, Margarita Simonjan, oder der Präsident der großen Staatsbank VTB, Andrei Leonidowitsch Kostin. Gelistete Personen dürfen nicht mehr in die EU einreisen, keine Geschäfte mehr in der EU abwickeln. Sämtliche ihrer in der EU vorhandenen Vermögenswerte werden eingefroren. Die Liste gilt längst nicht nur für Personen, sondern auch für Firmen. So landet etwa auch die Promsvyazbank auf Liste: Eine russische Staatsbank, die den russischen Verteidigungssektor und das russische Militär finanziell unterstützt. Deutschland geht sogar noch weiter. Scholz lässt die Genehmigung der Erdgaspipeline Nord Stream 2 stoppen. Die 1230 Kilometer lange Pipeline ist schon seit September 2021 fertiggestellt, aber wegen fehlender Zertifizierung der Betreibergesellschaft noch nicht in Betrieb. Ein politisch heißes Eisen für die SPD.
Zwei Tage später, abends in Brüssel. Der grausame Überfall Putins läuft seit circa 14 Stunden. Die Regierungschefs der EU kommen zum Sondergipfel zusammen, der bis in die Nacht dauern wird. Gemeinsam beugen sich die Regierungschefs wieder über die Sanktionsliste. Was noch in Paris an Pulver trocken geblieben ist, soll mit den neuen Sanktionen jetzt verschossen werden. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell setzt die Latte hoch, als er vom härtesten Sanktionspaket, das die EU je erwogen habe, spricht. So einig sich die Staaten grundsätzlich sind, so sehr spaltet sie die Frage, wie weit die Sanktionen gehen sollen. Besonderer Streitpunkt: Der Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System, dem internationalen Kommunikationsnetzwerk der Banken. Ein Ausschluss würde russische Banken gewissermaßen aus dem westlichen Finanzsystem hinauswerfen. Bundeskanzler Scholz ist dagegen, weil er fürchtet, Russland würde im Gegenzug das Gas abdrehen, wenn Probleme bei dessen Bezahlung auftreten. Dabei hat er Österreichs Kanzler Karl Nehammer an seiner Seite. Kein Wunder, denn Österreich ist noch viel abhängiger von russischem Gas als Deutschland. Auch Italiens Ministerpräsident Mario Draghi soll an dem Abend gegen die finanzielle Atombombe sein, wie der SWIFT-Ausschluss in den Medien überzogenerweise beschrieben wird. Im Berliner Kanzleramt hatte sich die regierende Ampel-Koalition auf eine Linie geeinigt: Putins Öl und Gas sollen weiter fließen. Das Risiko für eine handfeste Wirtschaftskrise hierzulande sei zu groß. Das Credo: Nichts tun, was Deutschland mehr schadet als Putin. In den Worten von Christian Lindner: »Es darf keinen Anlass geben, dass notwendige Lieferungen von Rohstoffen unterbrochen werden. Es geht darum, größten Druck auszuüben, ohne unsere Position gegenüber Putin strategisch zu schwächen.« In den Worten des Kanzlers: »Sanktionen dürfen die europäischen Staaten nicht härter treffen als die russische Führung; das ist unser Prinzip.« Das Recherchezentrum Correctiv findet diesen Grundsatz auch in internen Dokumenten. Die Sanktionen müssten »Russland mehr schaden als uns«, steht dort schwarz auf weiß. Folglich bleibt SWIFT außen vor, als spät am Abend das zweite Sanktionspaket veröffentlicht wird. Die Liste der sanktionierten Personen hingegen wird verlängert. Jetzt stehen auch Putin und sein Außenminister Lawrow darauf, ihr in der EU angelegtes Vermögen wird eingefroren. Vielen russischen Banken werden die Geschäfte in der EU verboten – ausgenommen sind jene, die im Energiegeschäft tätig sind. Damit werden insgesamt rund 70 Prozent des russischen Bankenmarktes vom europäischen Kapitalmarkt abgeschnitten. Dazu kommen Exportkontrollen für Hightech-Produkte und Exportverbote für den Transportsektor. Das Kalkül: Ohne Ersatzteile und Technik muss Russland früher oder später ganze Verkehrsflotten lahmlegen. Verboten wird auch der Verkauf von Maschinen und Technologien für die Modernisierung der Ölraffinerien. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt Russland den Wirtschaftskrieg: »Diese Sanktionen werden die Fremdkapitalkosten Russlands erhöhen, die Inflation antreiben und schrittweise die industrielle Basis Russlands schwächen.«
Wiederum zwei Tage später, am 26. Februar 2022 in Berlin. Scholz sitzt am frühen Samstagabend in einer gemeinsamen Videokonferenz mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Kanadas Premierminister Justin Trudeau und Italiens Regierungschef Mario Draghi. Es geht wieder um Sanktionen. Die deutsche Regierung ist mit ihrer SWIFT-Blockade international unter Druck geraten – und steht mittlerweile auch in der EU fast alleine da. Österreich und Italien haben ihre Haltung zum Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System geändert. Auch Deutschland muss sich bewegen. Scholz will aber bloß keine Schnellschüsse. Zu sehr fürchtet er den drohenden Gasboykott, wenn Gasrechnungen nicht mehr ordnungsgemäß abgewickelt werden können. Er weiß um die Verletzlichkeit Deutschlands und sucht daher einen Kompromiss. Nicht alle Banken sollen ausgeschlossen werden und auch nicht sofort, so die Linie der Ampel. Die Videoschalte endet mit einer Einigung und einer ungeahnten Finanzbombe. Deutschland schließt sich einem SWIFT-Ausschluss mit Ausnahmen an. Sieben russische Banken sollen vom Netzwerk abgeklemmt werden. Noch nicht betroffen sind die Sberbank, die größte russische Bank und die Gazprombank, über die Gasgeschäfte abgewickelt werden. Viel härter ist allerdings eine andere Sanktion. Die Länder einigen sich darauf, die Vermögen der russischen Zentralbank einzufrieren. Geschäfte mit ihr werden verboten. Auf einen Schlag verliert Russland Zugriff auf Wertpapiere und Währungsreserven im Wert von mehreren hundert Milliarden Euro und US-Dollar. Anders gesagt: Die russische Zentralbank wird entwaffnet. Mit diesem Geld kann Russland nun keine Importe mehr bezahlen und auch die eigene Währung, den Rubel, nicht mehr stützen. Der Treffer sitzt. Viel mehr noch als der Ausschluss aus SWIFT, auf den Russland sich längst vorbereitet hatte. In den Tagen darauf befindet sich der Rubel im freien Fall, steuert auf ein Rekordtief und verliert rund die Hälfte seines Werts. Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen dürfte für einen kurzen Moment ein Siegeslächeln auf den Lippen gehabt haben.
Der Montag danach in Moskau. »Die wirtschaftliche Realität hat sich erheblich verändert«, räumt Dmitri Peskow, Sprecher des russischen Präsidialamtes, am Montagmorgen ein. »Das sind schwere Sanktionen, sie sind problematisch.« Russland aber sei vorbereitet, die Pläne liegen in der Schublade. »Es gibt Reaktionspläne, sie wurden entwickelt und werden umgesetzt, sobald Probleme auftauchen«, bekräftigt Peskow. Vor allem die Sanktionen gegen die russische Zentralbank dürften den Kreml überrascht haben. Am Vortag hatte Putin als Reaktion auf die Sanktionen die Atomstreitkräfte des Landes in Alarmbereitschaft versetzt. Eine Gegenprovokation nach dem Prinzip Abschreckung. Spätestens seit dem Einmarsch in die Ukraine gilt Putin als unberechenbar. Ein unwägbarer, kriegsführender Putin mit Atomwaffen – das macht vielen Angst vor weiteren Eskalationen. An jenem Montag beruft Putin einen Krisengipfel mit seinen ökonomischen Experten ein. Tagungsort: Ein langer Tisch. Putin sitzt vor Kopf. Seine Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, sein Finanzminister Anton Siluanow und der Vorstandschef der Großbank Sberbank, Herman Gref, sitzen am anderen Ende des Tisches. Meterweit entfernt. Die Runde berät, wie der Rubel gerettet und die Sanktionen gekontert werden können. Das Ergebnis präsentiert Zentralbankchefin Nabiullina am Nachmittag bei einer Pressekonferenz. Sie wirkt sichtlich erschöpft. Das Gesicht ist blass, ihre Stimme schwach, die Sätze kurz. Sie verzichtet auf eine Einleitung und beginnt gleich mit der beschlossenen Zinserhöhung. Sie will den Termin schnell hinter sich bringen. Die Pflicht erledigen. Auch ihre Kleiderwahl spricht Bände. Sonst in farbenfrohen Blusen und Jacketts gekleidet, erscheint sie diesmal ganz in schwarz. Auf ihr Markenzeichen – eine symbolische Brosche am Kragen des Blazers, um ihre geldpolitische Entscheidung zu unterstreichen – verzichtet sie an diesem Tag. Nabiullina hebt den Leitzins drastisch an, sie macht die Moskauer Börse dicht und Wertpapierhändlern verbietet sie, russische Wertpapiere im Besitz von Ausländern zu verkaufen. Russische Firmen müssen ab sofort 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen in Rubel tauschen. Ihre eigene Skepsis gegen den Krieg, der diese unkonventionellen Maßnahmen nötig macht, kann die Zentralbankerin kaum verbergen. Menschen aus ihrem Umfeld sollen diesen Eindruck gegenüber russischen Journalisten bestätigt haben. Die Agentur Bloomberg berichtet später, dass sie Putin an diesem Tag um ihre eigene Entlassung gebeten haben soll. »Ich habe ja Ökonomie und nicht Fäkalienreinigung studiert«, lautete ihre Begründung. Putin aber lehnt ab. Auf seine wichtigste Bankerin kann und will er im Wirtschaftskrieg gegen den Westen nicht verzichten.
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Wow sind einige details dabei, die ich so noch nicht kannte. Liest sich echt spannend. Hut ab! =)