„Die Ersatzwelt im Kofferraum ist eine Illusion"
Die Gesellschaft wird älter, die Erde heißer: Warum wir Krisen- und Katastrophenbewältigung neu denken müssen!
Wenn Notfall ist, sind wir froh, sie zu haben; wenn Alltag ist, haben wir sie schnell wieder vergessen. Die Rede ist von den Katastrophenschützern und ihrer Heldenarbeit. Sie kamen, als das Ahrtal überflutet wurde, als die Pandemie grassierte, als Ukrainer vor Krieg nach Deutschland flüchteten – und sie kommen auch, wenn zuhause Pflegenot besteht.
Eine fatale Illusion
Damit das Deutsche Rote Kreuz im Notfall helfen kann, muss vorher viel organisiert werden und auf Abruf bereitstehen. Helfende Hände, Wissen, Ausrüstung, Fahrzeuge, Materialien und so weiter. Wir alle sind gewöhnt an eine Ersatzwelt, die das Deutsche Rote Kreuz im Kofferraum bereithält – und die so lange funktioniert, bis Alltag wieder möglich ist. Das ist in unserer modernen Gesellschaft so nicht mehr vollumfänglich möglich und bedarf neuer Ansätze, wie Matthias Max in seinem Buch „Hilfeleistungssysteme der Zukunft“ erklärt.
„Der Glaube an eine komplette Ersatzwelt im Kofferraum, die in Krisen und Katastrophen aktiviert werden kann, ist eine fatale Illusion.“
Matthias leitet das Team Sicherheitsforschung und Innovationstransfer beim Deutschen Roten Kreuz. Gemeinsam mit seinem Team kümmert er sich darum, wie wichtige Versorgungsstrukturen unter Krisenbedingungen in einer Welt funktionieren können, die kompliziert geworden ist. Die bisherigen Strukturen sind zu Zeiten des Kalten Krieges entstanden und benötigen ein Update. Schließlich sind die Krisen und Katastrophen immer anders gelagert.
Um nur zwei Megatrends zu nennen: Die Gesellschaft wird älter und das Klima verändert sich. Ambulante Pflege wird deshalb wichtiger, extreme Wetterereignisse wie Flut, Starkregen, Dürre und Waldbrände häufiger. Für Katastrophenschützer ist das eine riesige Herausforderung. Deshalb der Appell von Matthias: Notfall im Alltag schon mitdenken! Das sei nicht nur effizienter, sondern auch sicherer.
Krisen und Katastrophen vom Alltag denken
Was das heißt, erklärt Matthias am Beispiel Lebensmittelversorgung. Bräche die zusammen, ließe sich das nicht aus eigenen Reserven in Kofferraum und Lagerhallen bewältigen. Lebensmittel zentral und in großen Mengen für den Notfall zu lagern, ist zum Beispiel deutlich komplizierter als Schutzausrüstung. Lebensmittel laufen ab und müssen regelmäßig aufgebraucht und neu angeschafft werden, man braucht einen Lagerumschlag. Warum also nicht gleich dort ansetzen, wo dies eh passiert: bei den Supermärkten.
Heißt: Der Katastrophenschutz der Zukunft braucht Netzwerke und Kooperationen quer durch die Gesellschaft – von den sehr wichtigen Ehrenämtlern über die Behörden, die Firmen bis hin zu uns nach Hause. Nur wissen wir alle, dass Vorsorge nicht besonders sexy ist. Das stimmt für den Kontrollbesuch beim Zahnarzt wie für Vorbereitungen auf Katastrophen. „Was wäre, wenn…?“ muss aber vom Sankt-Nimmerleinstag in den Alltag!
Wie das für Krisen und Katastrophen gelingen kann, welche Hürden zu überwinden sind und woran beim Deutsche Rote Kreuz geforscht wird, habe ich mit Matthias Max im Interview besprochen. Das findet ihr wie gewohnt auf YouTube und überall, wo es Podcasts gibt.
Übrigens: Das Forschungsteam des Deutschen Roten Kreuz sucht immer wieder auch neue kluge Köpfe für das Team – als studentische Mitarbeiter oder Vollzeitkräfte. Wenn das etwas für euch ist, findet ihr Stellenangebote unter: https://jobs.drk.de/job-postings.
Mehr Investieren
Es war zwar nicht der Schwerpunkt des Interviews, aber ich bin der Meinung, dass der Staat viel mehr Geld in Katastrophenschutz investieren sollte. Aus dem Haushalt gab es im Krisenjahr 2021 rund 700 Millionen Euro, dieses Jahr hingegen nur 560 Millionen Euro. Vorsorge ist immer günstiger als Nachsorge im Krisenfall. Jede Million ist deshalb gut investiert. Geiz-ist-Geil-Mentalität können wir uns nicht leisten, wenn Katastrophen durch Erderwärmung und Klimawandel zunehmen. Das Ahrtal und die Corona-Krise sollten Warnung genug sein.
Das Deutsche Rote Kreuz hat auf seiner Website acht Empfehlungen zu Stärkung des Bevölkerungsschutz. Passenderweise lautet Nummer eins: „Nachhaltige Finanzierung“.
„Für eine zukunftsgerechte Vorsorge, Vorhaltung, Infrastruktur und Ehrenamtsunterstützung ist eine dauerhafte Verstetigung der jährlichen Bundesmittel auf mindestens zwei Milliarden Euro jährlich oder umgerechnet 0,5 Prozent des Bundeshaushaltes – derzeit sind es 0,14 Prozent – notwendig.“
Richtig so!
Transparenz: Das Interview und der Newsletter sind gesponsert vom Deutschen Roten Kreuz.