Japan und das Versagen der VWL
Der VWL-Mainstream kann nicht erklären, warum Inflation und Zinsen in Japan trotz Rekordschulden und riesigen Anleihekaufprogrammen so niedrig sind. Wozu taugt er dann eigentlich?
Will man als Student der Volkswirtschaftslehre (VWL) seinen Professor ärgern, muss man ihn einfach mal nach Japan fragen. Warum? Nun, Japan hat riesige Staatsschulden aufgebaut, hohe Defizite gefahren und die Zentralbank versucht mit Nullzinsen und Anleihekäufen alles, um die Wirtschaft in Gang zu bekommen. Und das seit mittlerweile mehr als 20 Jahren! Wer in ein VWL-Lehrbuch schaut, der bekommt vermittelt: Japan muss Probleme bekommen.
Die Mainstream-VWL lehrt: hohe staatlichen Defizite führen zu Inflation; steigende Staatsschulden führen zu steigenden Zinsen, weil der Staat mit dem Privatsektor um die knappe Geldmenge konkurriert; höhere Zinsen wiederum führen zu weniger Investitionen und damit zu weniger Wirtschaftswachstum; hohe Staatsschulden verängstigen die Kapitalmärkte und lassen Ratingagenturen die Bonität der Staatsanleihen herunterstufen; in der Folge wird das Land womöglich vom Kapitalmarkt abgeschnitten und in Zahlungsschwierigkeiten geraten. So oder so ähnlich steht es in den Lehrbüchern, wird es von Professoren gelehrt und von Ökonomen und Journalisten in den Medien kommentiert. Aber ist all das in Japan wirklich eingetreten? Nein!
Der Fall Japan
Bevor wir zum Faktencheck kommen: Japan ist ein entwickeltes und reiches Land mit 125 Millionen Einwohnern, hat in etwa eine Wirtschaftsleistung pro Kopf wie Frankreich, größtenteils eine moderne Infrastruktur, eine niedrige Arbeitslosenquote, aber auch eine stark alternde Gesellschaft. Seit den 90ern wurde Japan von mehreren Krisen geplagt - von platzenden Immobilienblasen über Börsencrashs 1990, der Asienkrise 1997 bis hin zur großen Finanzkrise 2008 und zur derzeitigen Corona-Pandemie.
Japan ist das Land, für das der Ökonom Richard Koo den Begriff „Bilanzrezession“ geprägt hat. Wegen der hohen Privatverschuldung von Firmen und Haushalten in Folge der Finanzkrisen 1990 und 2008 versucht sich die Privatwirtschaft gesund zu sparen. Gewinne werden genutzt, um Schulden abzubauen, statt zu investieren. Wenn weniger investiert wird, lahmt die Wirtschaft. Genau das ist seit Jahren der Fall in Japan. Der japanische Staat wäre gefragt, riesige Konjunkturpakete aufzulegen, damit die Wirtschaft brummt und der Privatsektor so viel Geld verdient, dass er von hohen Schulden runterkommt und die Bilanz aufpolieren kann. Genau das fehlt bis heute. Die japanische Fiskalpolitik gibt zwar so viel Gas, dass die Wirtschaft nicht abschmiert, aber nicht genug, um die Bilanzrezession endgültig zu lösen. Ein gutes Beispiel für die staubige Fiskalpolitik Japans ist die Mehrwertsteuer. Die wurde erst 1989 eingeführt und seitdem immer wieder erhöht, um „die Kosten für die Renten der alternden Bevölkerung zu finanzieren“ - – zuletzt 2019 von 8 auf 10 %. Nichts aber würgt Konsum stärker ab als eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Japan tritt deshalb seit 30 Jahren auf der Stelle.
Genau dagegen versucht sich die japanische Zentralbank (Bank of Japan) mit allem zu stemmen, was sie hat: große Anleihekauf-Programme („Quantitative Easing“) und niedrige Zinsen. Ginge es nach dem VWL-Mainstream, der der Geldpolitik grundsätzlich viel Wirkung unterstellt und sie sogar gegenüber der Fiskalpolitik bevorzugt, müsste Japan der Deflationsfalle doch längst entkommen sein?
Faktencheck
Kommen wir aber zu den Zahlen. Die erste Grafik zeigt, dass sich die Staatsverschuldung in den letzten 30 Jahren im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung fast verfünffacht hat. Und die Zinsen? Die sind gleichzeitig gefallen. Das ist das komplette Gegenteil zu dem, was in den Lehrbüchern steht.
Warum sind die Zinsen niedrig? Weil die Bank of Japan das so will. Sie bestimmt das Zinsniveau. Mit ihren Zinsentscheidungen kontrolliert sie das sogenannte kurzfristige Zinsniveau – also für Kredite und Anleihen mit kurzer Laufzeit - und mit ihren Anleihekäufen steuert sie das langfristige Zinsniveau. Der japanische Leitzins liegt bei - 0,1 % und die Bank of Japan kauft im großen Stil Anleihen auf. Das drückt die Zinsen nach unten.
Auch die Eurozone dient hier gerade als Beispiel. Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft ebenfalls seit einigen Jahren, besonders aber seit Corona, im großen Stil Staatsanleihen und hält den Leitzins bei null. In der Finanzkrise 2008 gab es diese Anleihenkäufe nicht. Der Unterschied: Damals sind die Zinsen auf griechische Staatsanleihen hochgeschossen, während Corona lagen sie selbst für zehnjährige Staatsanleihen von hoch verschuldeten Länden wie Griechenland oder Italien bei deutlich unter einem Prozent. Die Lehre muss also sein, dass das Zinsniveau kein Marktergebnis ist, sondern unter voller Kontrolle der Zentralbank liegt. Denkschulen wie die Modern Monetary Theory (MMT) und der Postkeynesianismus sagen das seit 30 Jahren, der VWL-Mainstream hat hier noch Aufholbedarf.
Mainstream-Ökonomen warnen zudem seit Beginn der Anleihekäufe vor Inflation. Die Grafik unterhalb zeigt, wie sich die Geldmenge MO (rechte Skala) in Japan durch die Anleihekäufe verändert hat.
Die Geldmenge ist 2020 14-mal so groß wie 1990. Von Inflation (linke Skala) hingegen kann keine Rede sein. Der Preisindex lag 2020 gerade einmal 1,8 Prozentpunkte über dem Level von 2015 und ca. 10 Prozentpunkte über dem Level von 1990. Japan hatte jahrelange Deflation. Auch hier lag der Mainstream falsch.
Ebenso werden hohe staatlichen Defizite als Inflationstreiber gesehen. Die Grafik unterhalb zeigt die jährlichen Defizite und die jährliche Inflation. Japan hatte fette staatliche Defizite, aber keine Inflation. Im Gegenteil: Deflation!
Japan offenbart schonungslos die Schwächen des VWL-Mainstreams. Weder sind seine zentralen Annahmen empirisch haltbar noch taugen seine Modelle für Prognosen. Der VWL-Mainstream kann die ökonomischen Zusammenhänge der Welt nicht erklären. Das muss die Schlussfolgerung sein. Hart, aber berechtigt.
Häufig kommt in dem Zusammenhang die Frage auf, ob denn Japan nicht der Musterschüler der MMT ist.
Japan der Musterschüler der MMT?
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