Kurswechsel bei der Zentralbank
Die neue Strategie der Europäischen Zentralbank einfach erklärt
Tage und Nächte wurde darüber in den Hinterzimmern von Frankfurts Bankenviertel gestritten, nun ist es offiziell: Die Europäische Zentralbank (EZB) fährt bald einen neuen Kurs in Sachen Geldpolitik. Präsidentin Christine Lagarde kündigte am vergangenen Donnerstag nicht einfach nur die zweite stinknormale Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte an, sondern ein ganz neues Zinskorsett.
Zwei der drei Zinssätze, die die EZB festlegt, wurden nämlich sogar um 0,6 Prozentpunkte gesenkt: Der Hauptrefinanzierungszins, zu dem Banken sich Zentralbankguthaben über Wochen und Monate leihen können, von 4,25 auf 3,65 Prozent; der Übernachtzins, zu dem Banken dringend benötigte Zentralbankguthaben über Nacht leihen können, von 4,5 auf 3,9 Prozent; und der Einlagezins, den Banken für Guthaben bei der EZB bekommen, von 3,75 auf 3,5 Prozent. Insgesamt sind die Zinssätze jetzt also näher beieinander.
Die Frage stellt sich: Warum reden aber alle nur von dem Viertelprozentpunkt Zinssenkung und nicht von den 0,6 Prozentpunkten? Die deutsche Wirtschaft könnte eine drastische Zinssenkung immerhin gut gebrauchen, kriselt sie doch von Quartal zu Quartal vor sich hin und ist noch immer nicht über dem Niveau von 2019. Auch die Ampel würde sich darüber freuen. Selbst Finanzminister Lindner stellte letzte Woche in seiner Haushaltsrede fest: Die Zinsen sind zu hoch für Deutschland – und schaden der Konjunktur. Recht hat er!
Keine große Zinssenkung
Die ernüchternde Antwort: Nein, das ist keine größere Zinssenkung. Faktisch hat die Änderung keinen Einfluss auf die Zinsen, die Banken oder die Wirtschaft. Noch nicht zumindest. Denn seit einigen Jahren sind die zwei Kreditzinsen der EZB völlig egal und werden nicht mehr gebraucht. Weil die Banken in Zentralbankguthaben schwimmen und weit mehr davon haben, als sie eigentlich brauchen, ist der Einlagezins der einzig relevante Zins.
Und selbst wenn eine Bank Zentralbankguthaben braucht, etwa um mit einer anderen Bank die Zahlungsströme ihrer Kunden zu verrechnen oder eine Anleihe vom Staat zu kaufen, leihen sich die Banken einfach untereinander Zentralbankguthaben auf dem sogenannten Interbankenmarkt. Das ist für beide günstiger, als von der EZB selbst zu leihen. Die Bank, die verleiht, bekommt ein bisschen mehr als den Einlagezins und die Bank, die leiht, zahlt weniger als den Hauptrefinanzierungszins. Win-Win!
Warum aber schwimmen die Banken in Zentralbankguthaben? Das hat mit den großangelegten Anleihekäufen seit 2015 zu tun. Vor allem in Reaktion auf die Corona-Krise hat die EZB den Banken massenweise Staatsanleihen abgekauft, um die Zinsen zu senken. PEPP hieß das Corona-Kaufprogramm beispielsweise. Wenn die EZB den Banken eine Staatsanleihe abkauft, tauscht sie die Anleihe gegen neues Zentralbankguthaben. Achtung, krasse Zahl: 4,7 Billionen Euro waren die Anleihen wert, die die EZB bis 2022 auf die eigene Bilanz genommen hatte. Das ist zehn Mal so groß wie der deutsche Bundeshaushalt.
Modellwechsel bei der Zentralbank
Durch den Überschuss an Zentralbankguthaben ist der Interbankenzins schon im Jahr 2013 mal kurz, spätestens aber seit 2015 bis heute auf den Einlagezins gefallen, wie die folgende Grafik zeigt.
Zur Erklärung: Der Interbankenzins ist in der Grafik hellblau (EONIA) bzw. grün (€STR), der Einlagezins gelb (DFR), der Hauptrefinanzierungszins dunkelblau (MRO) und der Übernachtzins orange (MLF). Der Überschuss an Zentralbankguthaben im Interbankenmarkt ist die bläulich gefärbte Fläche.
Vor 2009 lag der Interbankenzins immer zwischen dem Übernachtzins und dem Einlagezins, knapp über dem Hauptrefinanzierungszins. Weil es kaum überschüssige Zentralbankguthaben bei den Banken gab. Nach der Finanzkrise 2009 schwankte er zwischen Hauptrefinanzierungszins und Einlagezins, weil es zwar deutlich mehr überschüssige Zentralbankguthaben gab, aber nicht so viele, dass alle Banken darin schwammen. 2015 änderte sich das, seither schwimmen die Banken in Zentralbankguthaben und mittlerweile brauchen sie die Kreditlinien der Zentralbank faktisch gar nicht mehr – und handeln nur noch unter sich. Ökonomen nennen das den Übergang vom „Korridormodell“ (bis 2013) zum „Floormodell“ (seit 2015).
Seit 2023 hat die EZB allerdings den Rückwärtsgang eingelegt und will ihre Anleihebestände reduzieren, sprich: die Zentralbankguthaben im Interbankensektor schrumpfen. Wenn heute eine deutsche Anleihe ausläuft, die die EZB hält, und Finanzminister Christian Lindner den Anleihebetrag an die Zentralbank überweist, kauft sie damit – anders als bisher – keine neue Anleihe mehr. Der Effekt ist, dass die Anleihepreise fallen, und umgekehrt die Rendite (einfach gesagt: der Zins) steigt.
Und: Langsam, aber sicher, reduzieren sich so die Anleihebestände der EZB, ihre Bilanz wird kürzer. Bis Ende 2025 schrumpfen die Bestände von 4,7 auf 2,1 Billionen Euro, so die Prognose der EZB. Das wäre dann ungefähr das Niveau von 2017. Je weiter die überschüssigen Guthaben zurückgehen, desto eher sind Banken wieder auf Kredite von der EZB angewiesen und desto eher steigt der Interbankenzins wieder an, weil die Banken, die Guthaben verleihen können, eine besserer Verhandlungsposition haben.
Der Interbankenzins wird dann wieder zwischen dem Einlagezins und dem Hauptrefinanzierungszins schwanken. Und um genau diese Schwankungen möglichst kleinzuhalten, hat die EZB die zwei Kreditzinsen näher an den Einlagezins gedrückt. Der Unterschied beträgt jetzt nur noch 0,15 und nicht mehr 0,5 Prozentpunkte. Relevant wird das aber erst 2026 oder noch später, wenn die Überschüsse im Interbankenmarkt noch kleiner geworden sind. Gleichzeitig hat die EZB aber auch angekündigt, an einem neuen Kauf- oder Kreditprogramm zu arbeiten, das im Fall der Fälle ab 2026 wieder greift und dafür sorgt, dass es auch nicht zu wenige Zentralbankguthaben im System gibt.
Das Ziel ist eine Mischung aus dem Korridor- und dem Floormodell. Ein Vorteil ist, dass die EZB so mehr direkten Kontakt zu den Banken hat, wenn sie sich Guthaben bei der EZB leihen und der EZB ihre Sicherheiten vorzeigen müssen. Immerhin ist die EZB ja auch als Aufsicht für die großen Banken zuständig. Für Laien wird der Unterschied aber nicht erkennbar und für die Volkswirtschaft als Ganzes zu vernachlässigen sein.
Wichtig ist für den Moment eigentlich nur: Es gibt keine (!) 0,6-Prozentpunkte-Zinssenkung, aber noch immer einen billionenschweren Überschuss an Guthaben im Interbankenmarkt. Zu wenig und zu kompliziert für eine Tagesschau-Meldung, aber genug für einen kleinen Erklär-Artikel bei Geld für die Welt.
Lieber Maurice,
vielen Dank für deinen hervorragenden Beitrag zum Thema Kurswechsel bei der Zentralbank. Deine Vermutung dass dieses Thema nicht nur für die Tagesschau zu kompliziert ist sondern auch für viele Leser deines gut verständlichem Beitrags ist, leite ich aus den bisher nicht vorhandenen Leserbeiträgen ab.
Der derzeitige beachtliche Überhang der Geschäftsbanken an EZB-Buchgeld, genannt Reserven, wird sicherlich noch eine Zeit lang anhalten. Erfahrungsgemäß werden die auslaufenden Staatsanleihen von der Regierung mit der Ausgabe von neuen Staatsanleihen bezahlt, da sie aus Steuer-Einnahmen üblicherweise keine Überschüsse genieren können. Damit, d.h. mit der Neuausgabe und Verkauf dieser Staatsanleihen an die GBs, werden die Guthaben der Geschäftsbanken bei der EZB abgeschmolzen und wieder in mit Zinsen belastete Wertpapiere im Besitz der GBs überführt.
Dass diese Aktivitäten der EZB wenig bis Garnichts mit der Zinspolitik der GBs gegenüber ihrer Kunden zu tun hat, wird in deinem Beitrag gut sichtbar. Es handelt sich um zwei völlig getrennte Handlungsbereiche. Das wesentlich größere Volumen der Giralgeld Geschäfte auf den Finanzmärkten läuft unabhängig von den Bemühungen der EZB hierauf mit ihrem KURZEM Hebel der Reserven Einfluss zu nehmen. Natürlich nehmen die GBs gerne diese für sie „todsicheren Zinseinkünfte“ ohne Ausfallrisiko der Kredite in Anspruch.
Ob die EZB mehr nach dem „Korridormodell“ oder dem „Floormodell“ agiert ist praktisch nicht nur für Laien sondern auch für die GBs mit ihrer Zinspolitik weitestgehend bedeutungslos. Die Hebel einer Zentralbank sind sowohl für ihre Zinspolitik wie auch für die Aufgabe der Preisbeeinflussung erwiesenermaßen zu kurz!