Lauterbachs Klassenkampf von oben
Die Löcher in der Krankenversicherung stopft der Gesundheitsminister aus dem Geldbeutel der Ottonormalverdiener. Stattdessen hätte er die Beitragsbemessungsgrenze oder die Steuern anheben sollen.
Lange wurde die Entscheidung erwartet, gestern war es dann so weit. Nach wochenlangen Verhandlungen mit Finanzminister Lindner tritt Karl Lauterbach vor die Presse und verkündet seine Finanzreform für die gesetzliche Krankenversicherung. Er wirkt genervt, aber entschlossen. Die Pandemie hat ein Loch in den Versicherungstopf gerissen. Und zwar ein 17-Milliarden-Loch. Lauterbach beteuert, dass er das Problem von Jens Spahn, seinem Vorgänger, geerbt habe. Spahn hatte noch Glück. 2021 hat der damalige Finanzminister Scholz rund 14 Milliarden aus dem Bundeshaushalt zugeschossen, um das Loch zu schließen. Mit Lindner war das nicht zu machen.
Denn der Finanzminister ist längst zum rigorosen Sparkommissar geworden. Vor einigen Tagen hatte er Lauterbach schon den Wunsch genommen, die kostenlosen Bürgertest über den Juni hinaus bis zum Jahresende zu verlängern. Die Tests kosten ab dem 1. Juli wieder drei Euro. Hier hatte Lauterbach schon einmal zurückstecken müssen, Lindners Entscheidung aber öffentlich damit verteidigt, dass die Haushaltslage nun mal ”sehr angespannt” sei. Eine glatte Lüge. Denn bis zum Jahresende ist die Schuldenbremse für coronabedingte Ausgaben noch ausgesetzt. Den etwas mehr als zwei Milliarden, die es für kostenfreie Bürgertests gebraucht hätte, hätte nichts im Weg gestanden. Eine Entscheidung, die sich mit unglücklichem Pandemieverlauf im Herbst noch rächen kann!
Und auch bei der Vorstellung gestern verteidigte Lauterbach den Finanzminister. Obwohl er abermals in Verhandlungen den Kürzeren gezogen hat. Noch bevor er seinen Plan vorstellt, steckt Lauterbach die Rahmenbedingungen ab, unter den die Reform erarbeitet wurde. Lauterbach:
“Der Finanzminister hat darauf geachtet, dass wir nicht zu Vorschlägen kommen, die die Schuldenbremse verletzen oder Steuererhöhungen notwendig machen würden.”
Er teile die Ziele ausdrücklich und möchte sich für das “einvernehmliche Ergebnis” beim Finanzminister bedanken. Kritik klingt anders. Im Wahlprogramm der SPD stand damals noch etwas anderes, oder?
An die kleinen Geldbeutel
Das 17-Milliarden-Loch will Lauterbach mit einer Reihe von Maßnahmen schließen. Die Wichtigste: Der Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung steigt um 0,3 Prozentpunkte. Von Lindner gibt es hingegen nur ein Zuschuss von läppischen 2 Milliarden aus dem Bundeshaushalt. Spahn bekam, wie schon erwähnt, noch 14 Milliarden vom damaligen Finanzminister Olaf Scholz. Daneben will Lauterbach Reserven beim Gesundheitsfonds und den Krankenkassen nutzen, ein Darlehen von einer Milliarde Euro aufnehmen und eine Solidarabgabe für Pharmafirmen in Höhe von einer Milliarde Euro festsetzen. Die Krankenkassen beschweren sich, dass das Flickschusterei sei. Zurecht!
Am problematischsten ist allerdings die Erhöhung des Zusatzbeitrags. Neben dem gesetzlich festgelegten einheitlichen Beitrag von 14,6 Prozent der monatlichen Bruttoeinnahmen zahlen die Mitglieder auch einen Zusatzbeitrag. Der variiert je nach Kasse, liegt im Schnitt aktuell bei 1,3 Prozent. Die Erhöhung um weitere 0,3 Prozent dürften ebenfalls nicht alle Kassen umsetzen, einige könnten mit etwas Glück auch weniger nehmen. Allerdings rechnet Lauterbach damit, dass der höhere Zusatzbeitrag rund 5 Milliarden Euro einbringt. Da Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils die Hälfte zahlen, heißt das: mindestens 2,5 Milliarden Euro mehr Abgaben für die 57 Millionen Arbeitnehmer, die Mitglied bei der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Anders gesagt: 2,5 Milliarden Euro Mehrbelastung für diejenigen, die ohnehin schon Kaufkraft durch die Inflation verlieren.
Das ist vor allem ein Griff in die Tasche des Ottonormalverdieners. Wie die Grafik unterhalb zeigt, belasten die Sozialbeiträge schon kleine Einkommen stark und ziehen sich dann durch die Breite der Bevölkerung - bis nach ganz oben. Dort weht allerdings ein anderer Wind. Spitzenverdiener lachen nur müde über die Sozialbeiträge. Sie werden damit im Verhältnis zu ihrem Spitzeneinkommen kaum belastet. Das liegt an den Beitragsbemessungsgrenzen. Die Grenze, bis zu der der Krankenkassenbeitrag erhoben wird, liegt 2022 bei 4.838 Euro pro Monat. Wer mehr verdient, zahlt auf jeden Euro darüber keinen zusätzlichen Beitrag mehr. Jedem Euro vom Einkommen darüber bleiben also auch die 0,3 Prozentpunkte mehr Zusatzbeitrag erspart, jedem Euro darunter aber nicht.
Lauterbach verschont die Spitzenverdiener auf Kosten der Malocher, so klar muss man das sagen. Im Verhältnis zum Einkommen schmerzt der höhere Beitrag die Kassiererin viel stärker als den Manager. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch schlecht für die Wirtschaft. Denn der Manager hat eine deutlich höhere Sparquote als die Kassiererin. Wer die Kassiererin belastet, kürzt ihre Ausgaben für den Supermarkt, das Kino, den Urlaub oder den Friseurbesuch. Das Gegenteil bräuchte es angesichts der miesen Wirtschaftslage. Die Umsätze im Einzelhandel gingen zuletzt schon um fünf Prozent zurück. Die Beitragserhöhung konterkariert auch die Entlastungspakete. Auf einer Seite geben, auf der anderen nehmen - das ergibt keinen Sinn.
Erinnert sei auch an das große Buhei, das Ampel-Koalitionäre um die Zielgenauigkeit der Entlastungsmaßnahmen machen. Die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel lehnt die Ampel ab, weil die Maßnahme nicht zielgenau sei. Denn gut verdienende Abgeordnete wären ja nicht darauf angewiesen, dass Brot, Butter und Brokkoli günstiger werden. Wie sehr das Argument an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt auch die Grafik oberhalb. Keine Steuer belastet die unteren 50 Prozent mehr als die Mehrwertsteuer. Wer die Mehrwertsteuer senkt, hilft der Kassiererin mehr als dem Manager. Wie unglaubwürdig das Argument der Zielgenauigkeit ist, entlarvt auch Lauterbachs Reform. Die trifft nämlich kleine Geldbeutel im Verhältnis zum Einkommen stärker als große.
Der Manager sollte zahlen
Dabei lagen die Alternativen auf der Hand. Statt alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung mehr zu belasten, hätte Lauterbach auch die Beitragsbemessungsgrenze anheben können. Damit hätte er die Kassiererin verschont und den Manager in die Pflicht genommen. Nur wer mehr als 4.838 Euro verdient, hätte dann mehr gezahlt. Bei anderen Sozialversicherungen liegt die Grenze heute schon höher, für die Renten- und die Arbeitslosenversicherung etwa bei 7.050 Euro. Und auch die sind eigentlich noch zu niedrig. Für Ottonormalverdiener könnten alle Sozialbeiträge deutlich sinken, wenn die Grenzen angehoben oder sogar gänzlich aufgehoben würden.
Eine andere Option wäre ein höherer Zuschuss aus dem Bundeshaushalt gewesen. Da die Ampel auf Teufel komm raus die Schuldenbremse im nächsten Jahr wieder einhalten will, war mit Lindner hier nicht viel zu machen. Dass Lauterbach die Haltung nicht öffentlich kritisiert und sogar Steuererhöhungen ebenfalls für falsch erklärt, zeigt seine wirtschaftsliberale Ausrichtung. Im Gegensatz zur Erhöhung der Abgaben wäre selbst eine Erhöhung der Einkommensteuer die bessere Wahl gewesen. Hier gibt es nämlich keine Beitragsbemessungsgrenzen, dafür aber hohe Freibeträge. Die Kassiererin wäre deutlich weniger belastet worden, der Manager dafür mehr. Steuererhöhungen auszuschließen, aber Beiträge zu erhöhen ist ein fauler Trick. Lauterbach lässt sich von Lindner für seinen Klassenkampf von oben vor den Karren spannen.
Viele SPDler zeigen jetzt gerne mit dem Finger auf die FDP. So zum Beispiel der Ökonom Prof. Gustav Horn, der zum SPD-Parteivorstand gehört.
Mir ist das als Entlastung zu billig. Denn Lauterbach hat auf der Pressekonferenz mit keinem einzigen Ton Kritik an der Schuldenbremse oder der Prämisse “keine Steuererhöhungen” geübt. Ganz im Gegenteil: Er hat sich Lindners Prämissen zu eigen gemacht. Das machen dieser Tage ohnehin viele SPD- und Grünen-Abgeordnete, wenn sie Entlastungen für nicht finanzierbar erklären, obwohl (!) die Schuldenbremse ausgesetzt ist.
Man darf die Frage stelle: Wer ist eigentlich die größte Regierungsfraktion? Und welche Partei sitzt eigentlich im Kanzleramt? Die von Lindner? Und wo bleibt eigentlich der Aufschrei der Grünen?
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Es ist zu befürchten, dass der Manager gar nicht mehr gesetzlich, sondern privat krankenversichert ist, jedenfalls wenn er einigermaßen gesund ist. In Deutschland kann man sich ja nach wie vor, ab einem gewissen Einkommen, aus der solidarischen Versicherung freikaufen. Wenn mann gesund ist, kann mann so ordentlich sparen. Die privaten Versicherungen machen dann mit den Wohlhabenden Gesunden gute Geschäfte, und die gesetzlichen Kassen werden weiter belastet.
Die Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, wäre also auch eine Alternative zur Erhöhung der Zusatzbeiträge gewesen. Aber auch das ist mit der FDP wohl kaum zu machen. Die Privilegien der Besserverdienenden stünden auf dem Spiel.
Also irgendwie kapier ich nicht wo in dieser Politik "Mehr Fortschritt wagen" drin ist.
Was wird denn "gewagt"?
Man hat schiss nach außen zerstritten zu wirken und setzt deswegen nich seine eigenen Ideale durch. Das nenne ich jedenfall feige.
Wo ist denn der "Fortschritt"?
Besteht der Fortschritt etwa darin, dass man weiter "zielgerichtet" vermeidet die untersten Einkommen zu entlasten und nach außen das Gegenteil behauptet? Was ist daran fortschrittlich? Maximal der Grad der Lüge. Für alles Andere fehlt mir die Fantasie
"Mehr" von was denn bitte?
Belastung der gesetzlich Versicherten, die man eigentlich "Zielgerichtet" entlasten will. Das kriegst du echt nicht mehr verargumentiert.
Wie kann denn bitte der größte Koalitionsteil sich so von dem kleinsten Koalitionsteil vereinnahmen lassen?
Maurice eine Bitte: Können wir mal bitte vergleichen mit den 16 Jahre CDU ob wir trotz dem Murks gerade "Mehr Fortschritt wagen"? Ich komme da echt ins Zweifeln ...
Ansonsten wieder super Artikel.