Erbsenzähler überzeugen nicht!
Für linke Mehrheiten braucht es Politik für den Geldbeutel - und zwar auch den der Mittelschicht.
Man muss sich das mal vorstellen: Wir haben historisch große Ungleichheit, wir taumeln von der Pandemie in die Energiekrise, die Inflation frisst Löhne und Renten, und trotzdem gäbe es in Deutschland stand heute keine stabile linke Mehrheit. Ein Trauerspiel. Das hat viele - unterschiedliche - Gründe. Einen will herausstellen, weil er zu den Debatten um die Senkung der Mehrwertsteuer passt.
Zu viele Linke - und damit meine ich alle Parteien links der CDU - sind zu pedantischen Erbsenzählern mit Moralkeule geworden. Bei universalistischen Forderungen für den Geldbeutel der Mehrheit wie etwa der Senkung der Mehrwertsteuer gibt es mehr von etlichen Linken mehr “Aber…” als Zustimmung. Aber der SUV-Fahrer, aber die ökologische Wahrheit des Benzinpreises, aber die bösen marktmächtigen Firmen, aber die Staatsfinanzen, aber, aber, aber. Das Abgrenzungsbedürfnis ist so groß, dass Vorschläge, die Arme und Mittelschicht gemeinsam besserstellen, zerredet werden. Oft mit ökonomischen Mythen und leider auch mit neoliberalen Floskeln wie “der Gießkanne” oder “der Finanzierbarkeit”.
Dabei werden häufig Mittelschicht und Arme gegeneinander ausgespielt, statt politische Angebote zu machen, die Familien auf dem Land genau so wie prekäre Selbstständige in Berlin-Mitte beide attraktiv finden. Linke Politik sollte den Leuten die begründete Hoffnung auf ein “Es wird besser!” vermitteln. Dafür muss man den Leuten zeigen, dass man den großen Wirtschaftstanker Deutschland steuern kann, dass man sie vor Mondpreisen schützt, dass man dafür sorgt, dass der Alltag bezahlbar bleibt, dass die Politik sich das finanziell leisten kann, dass es für mehr Jobs sorgen wird und - ganz wichtig, man muss den Leuten ihr bisschen Mittelschichtswohlstand gönnen. Niemand mag Erbsenzähler und Korinthenkacker.
Nicht weniger, sondern mehr!
Die Mehrheit in diesem Land verdient zu wenig und zahlt zu viel. Und zwar nicht erst, seitdem die Inflation auf über sieben Prozent gestiegen ist. Eine Politik, die mehr für die Mehrheit bringt, die Einkommen erhöht und vor hohen Preisen schützt, ist für die breite Mehrheit auch attraktiv. Und zwar umso mehr, seitdem die Inflation auf über sieben Prozent gestiegen ist.
So sehr die Mehrheit allerdings mehr im Geldbeutel haben will, so wenig wollen Menschen vom Staat abhängig sein. Der Alltag muss bezahlbar bleiben und die kleinen Träume idealerweise erfüllbar werden. Je weniger man dafür zum Amt rennen und Anträge schreiben muss, desto besser. Niemand ist gerne von Lindners Almosen abhängig, wenn der Lohn an der Zapfsäule und der Supermarktkasse entwertet wird. Linke Politik sollte die Mehrheit deshalb unabhängig vom Amt machen wollen. Gut laufende Wirtschaft, Vollbeschäftigung und - gerade heute - Schutz vor Mondpreisen. Letzteres heißt tatsächlich: hohe Preise vermeiden statt sie nur mit diversen Zuschüssen ausgleichen zu wollen. Lieber die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel senken als Lebensmittelpauschalen auszahlen, lieber einen Tankrabatt als eine Energiepreispauschale. Überhaupt finde ich den Vorschlag für Lebensmittelpauschalen schrecklich. So richtig die Forderung ist, dass die Leute finanziell unterstützt werden, wenn Lebensmittel zu teuer werden, so falsch finde ich das Framing, dass es Almosen zum Essen gibt. Lieber bestehende Zahlungen ausweiten oder, wie ohnehin längst überfällig, den Hartz-IV-Satz an die Lebensrealität der Betroffenen angleichen, aber bitte keine Lebensmittelpauschale. Aus Respekt vor dem Selbstbild derjenigen, die nicht über die Runden kommen.
Schutz vor Mondpreisen ist dabei ein Gewinner-Framing, weil es die Menschen davor bewahrt, auf Zuschüsse angewiesen zu sein. Ein Klimageld, das für hohe Benzinpreise entschädigen soll, ist hingegen ein Verlierer-Framing. Statt zu schützen wird entschädigt. Verbraucherschutz und Gerechtigkeit sollten aber gerade aus linker Sicht heißen, die Pendler, die Malocher, die Armen vor Preisexplosionen zu schützen. Noch mal: Das Ziel sollte doch sein, dass die Leute eigenständig mit ihrem Geld über die Runden kommen und sich idealerweise die kleinen Wünsche erfüllen können. Das Klimageld ist das Gegenteil. Das ist nur eine Entschädigung, nachdem den Leuten mit Mondpreisen in den Geldbeutel gegriffen wurde. Erst muss man unverschämt viel zahlen, um dann zu hoffen, dass der Staat wieder etwas zurückgibt. Falsche Reihenfolge!
In der Debatte um den Klimaschutz wird generell zu viel über Kosten und zu wenig über Chancen geredet. Wer ständig höhere Preise fordert - oder sogar die zuletzt kriegs- und krisenbedingt gestiegenen Preise für Energie verteidigt - vermittelt, dass Klimaschutz den Geldbeutel leert, dass Klimaschutz uns ärmer macht, dass wir auf Almosen von Lindner angewiesen sein werden. Das Gegenteil müsste der Fall sein: Klimaschutz kann auch Investitionsoffensive, mehr Jobs, mehr Einkommen, mehr Sicherheit und mehr Lebensqualität heißen. Green New Deal statt wirtschaftsliberale Märchen über die Lenkungswirkung von Preisen - das sollte die Leitplanke sein!
Der Geldbeutel eint!
Das Gute an Politik für den Geldbeutel: es schafft viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Es geht nicht um Lifestyle, sondern um Sorgen, die die Mehrheit teilt – unabhängig von Herkunft und Identität. Die Mehrheit hinter der Politik für den Geldbeutel ist eine Mehrheit, zu der auch Minderheiten gehören. Gerade die sind ja häufig von miesen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, löchrigem Sozialstaat und hohe Kosten in der Bewältigung des Alltags betroffen. Eine Politik für die Mehrheit - für mehr Jobs, mehr im Geldbeutel und einen günstigeren Alltag - stellt Minderheiten deshalb sogar überproportional besser, ohne sie gegen andere auszuspielen. Kulturell mögen sich die Milieus der lohnabhängigen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden, das ist auch gut so, aber materiell sind die Interessen sehr ähnlich. Ob Fußballstadion oder Technoparty, ob Falafel oder Bratwurst, ob selbst genutzte Eigentumswohnung auf dem Land oder Miete in der Großstadt: wer malochen muss, um vernünftig über die Runden zu kommen und sich bescheidenen Wohlstand wünscht, der sitzt im gleichen Boot. Je breiter, je materieller und je universalistischer das politische Angebot, desto attraktiver ist es.
Wie einige Linke darauf kommen können, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf krass gestiegene Preise für Energie oder Grundnahrungsmittel damit zu zerreden, dass die Wirkung “nicht zielgenau” sei oder “nicht die Richtigen” treffe, geht mit meinem Verständnis für populäre linke Politik nicht zusammen. Stabile linke Mehrheiten kommen nur zustande, wenn man Politik für den Geldbeutel der Mehrheit in den Vordergrund stellt.
Die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel zu streichen, wäre so etwas. Laut T-Online zeigt eine aktuelle Umfrage, dass 77 Prozent der Deutschen dafür sind - eine breite Mehrheit. Ich wiederhole deshalb: Mehr universellen Materialismus, weniger pedantische Erbsenzählerei. Mehr für den Geldbeutel der Mehrheit!
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Ich habe eine ganz naive Frage: Warum führt der Krieg zu hohen Energiepreisen. In den Zeitungen und Nachrichten finde ich das nie erklärt. Es wird nur gesagt "wegen der Unsicherheit". Was heißt das?