Freiwillige Wirtschaftskrise?
Wenn wir kein Gas aus Russland mehr kaufen, dann droht nicht nur Verzicht auf Komfort, sondern eine große Wirtschaftskrise. Wie das gegen Putins Krieg helfen soll, ist fragwürdig.
Angesichts des fürchterlichen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Deutschland bereits massive Sanktionen gegen Russland erlassen. Sanktionen gegen die Zentralbank, die Regierung, die Oligarchen und auch die Industrie in Russland. Die Sanktionen reichen von eingefrorenen Eurodevisen und Privatvermögen über beschlagnahmte Yachten über den teilweisen Ausschluss aus Bankgeschäften bis hin zu Exportverboten bei Tech- und Industriegütern. Und die Sanktionen wirken. Mit einem Rubel lassen sich nur noch halb so viele Euros kaufen, etliche russische Banken und Firmen sind pleite - oder werden bald pleite gehen -, die Arbeitslosigkeit steigt und das Einkommen der breiten russischen Bevölkerung wird fallen. Wirtschaftskrise, Armut und Inflation werden die Folgen sein. Das steht schon heute fest, auch wenn es noch nicht in Statistiken erfasst ist. Zu diplomatischen Fortschritten und einem Kriegsende hat das bisher allerdings noch nicht geführt.
Aus dem Grund wird aus nahezu allen politischen Richtungen die Forderung nach mehr und härteren Sanktionen vorgebracht. Immer lauter wird der Ruf nach einem Importstopp von Gas, Öl und Kohle aus Russland. Deutsche Energieimporte sollten nicht länger Putins Krieg finanzieren, so der Hauptgrund. Genau das fordert ein zivilgesellschaftliches Bündnis in einem offenen Brief, der von Rezo, Luisa Neubauer, Eckart von Hirschhausen und anderen Prominenten unterzeichnet ist. Aber auch Politiker wie Jens Spahn und Norbert Röttgen von der CDU, Agnes Strack-Zimmermann von der FDP - zudem Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag -, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck sowie der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, stellen die gleiche Forderung. Habeck, Lindner, Scholz und viele gewerkschaftsnahe Ökonomen sind bisher dagegen.
Ein Importstopp hieße, wir bekommen kein Gas, kein Öl und keine Kohle mehr aus Russland; und russische Energieexporteure dafür im Gegenzug keine Euros mehr aus Deutschland. Die Folgen wären viel damatischer und viel komplexer als die Sätze “Frieren gegen Putin” und “Unser Sprit finanziert Putins Krieg” glauben lassen. Es geht dabei außerdem vordergründig nicht um individuellen Verzicht auf “Komfort”, sondern um nicht weniger als eine selbst auferlegte Wirtschaftskrise, die schwerer sein könnte als der pandemiebedingte Wirtschaftseinbruch. Es geht um Versorgungssicherheit, Jobs und Wohlstand. Und natürlich auch um politische Mehrheiten. Eine Krise samt Massenarbeitslosigkeit wäre schließlich ein Konjunkturprogramm für die AFD. Es ist bitter, ja, aber all das steht bei der Frage auf dem Spiel. Nur ratsam also, dass Kosten, Nutzen und Alternativen mit kühlem Kopf einander abgewogen werden sollten. Bitte keinen blinden Aktionismus!
Wir sind abhängig
Ein Importstopp hätte hohe Kosten, weil Deutschland extrem abhängig ist von russischer Energie. Robert Habeck sagte auf einer Pressekonferenz dazu:
“Wenn ich bei den Energielieferungen bin, so will ich einmal feststellen, und das sage ich mit großem bedauern und das sage ich nicht freudestrahlend, dass Deutschland von russischen Energieimporten abhängig ist. Wir haben einen Import von 55 Prozent Gas, 50 Prozent Kohle und 35 Prozent Öl aus Russland. […] Deswegen brauchen wir und werden auch die Möglichkeit für Energiezufuhren aus Russland offen halten. Wir brauchen diese Energiezufuhren, um die Preisstabilität und die Energiesicherheit in Deutschland sicherzustellen.”
Wenn russische Energie wegfällt, braucht es Alternativen. Und das ist das große Problem. Es gibt nicht genug Alternativen. Erst recht nicht für die Mengen an Erdgas, die wir aus Russland geliefert bekommen.
Timm Kehler vom Branchenverband Zukunft Gas bezeichnet Gas als wichtigsten Energieträger für deutsche Heizungen und die deutsche Industrie. Er sagte:
“Jeder zweite Deutsche heizt mit Gas. Und ich glaube, allein aus diesen Proportionen heraus wird es deutlich, dass man hier nicht kurzfristig Veränderungen des Systems herbeiführen kann.[…] Ohne Gas aus Russland würden Branchen wie die Chemie-, Automobil-, Stahlindustrie große Schwierigkeiten bekommen. Das wäre ein volkswirtschaftlicher Schock mit ungeahnten Folgen."
Erdgas ließe sich theoretisch mit Flüssiggas ersetzen, doch zum einen ist das ökologisch bedenklich (erst recht, wenn es um schmutziges Fracking-Gas geht) und zum anderen würde es Jahre dauern, bis die Kapazitäten über LNG-Terminals in Deutschland aufgebaut wären. Die bestehenden LNG-Kapazitäten in Europa reichen schlicht nicht aus. Eine Auswertung des Marktforschungsunternehmens ICIS kam zu dem Schluss, dass im kommenden Winter gerade einmal 40 Prozent der europäischen Erdgasnachfrage selbst bei kompletter Auslastung aller verfügbaren Flüssigerdgas-Terminals gedeckt werden könnten. Damit kommt man nicht weit. Auch Sebastian Gulbis, Experte beim Energieberatungsunternehmen Enervis, warnt:
„Bis zum Beginn des nächsten Winters werden sich die Probleme nicht lösen lassen. Wir rechnen damit, dass es vier bis fünf Jahre dauert und massiver Investitionen bedarf, ehe die Abhängigkeit von russischem Gas deutlich reduziert ist. Erst dann könnten die angekündigten LNG-Terminals frühestens fertig sein.“
Es zeigt sich: Die LNG-Terminals nicht zu bauen, war ein industriepolitischer Fehler der Vergangenheit. Die GroKo hat es verbockt.
Die größten Flüssiggas-Exporteure sind außerdem Australien, Katar und die USA.
Teure Abhängigkeit
Der Verzicht auf russische Energie würde zu massiven Preissprüngen führen und vermutlich auch Rationierung notwendig machen. Schon die Spekulation über einen Importstopp treibt die Marktpreise für Energie in ungeahnte Höhen. Sinnbildlich dafür waren am letzten Wochenende Benzin- und Dieselpreise von weit über 2 Euro an der Tankstelle. Noch extremer als beim Ölpreis ist die Lage beim Gaspreis. An der Börse wird Gas, das im nächsten Monat geliefert wird, seit Kriegsbeginn vier bis neun Mal teurer gehandelt als vor einem Jahr. Bei einem tatsächlichen Energieembargo ginge es wohl noch höher. Wenn diese Dimensionen dann voll auf die Verbraucherpreise für Strom und Heizung sowie über den Umweg der Lieferketten auf Lebensmittel und andere Produkte durchschlagen, wird das bisherige Entlastungspaket der Ampel zum Tropfen auf dem heißen Stein.
Diese Preisanstiegen haben in Deutschland dann auch Verteilungswirkungen. Kleine und mittlere Einkommen werden dadurch viel stärker belastet. Die Preise für Energie wie auch für alle anderen Güter, deren Preis maßgeblich von den Energiekosten beeinflusst wird, werden dann zur drängendsten sozialen Frage. Schlechtes Timing für einen Finanzminister namens Christian Lindner. Von ihm ist gewiss nicht zu erwarten, dass er diese preisliche Unwucht ausreichend ausgleichen wird. Das machte er zuletzt schon deutlich, als er im Welt-Interview sagte:
“Nicht alle negativen Folgen, zum Beispiel steigende Energiepreise wird der Staat ausgleichen können. Das ist dann gewissermaßen der Preis, den wir alle [für Putins Krieg] zahlen.”
Lindners Motto: Klotzen bei der Bundeswehr, Kleckern bei der Entlastung der Bürger. Hat er sich im Wahlkampf nicht noch als zukünftiger Entlastungsminister inszeniert? Dem Realitätscheck als Finanzminister konnte das bisher nicht standhalten. Eine zeitweise Absenkung der Mehrwertsteuer auf Energie, wie der DGB, die LINKE und die Union es fordern, hält Lindner schlicht für nicht finanzierbar.
Am Sonntag wurde dann bekannt, dass Lindner stattdessen 20-Cent-Tankrabatt einführen will. Dieser Rabatt ist allerdings viel zu niedrig und ein Bürokratiemonster. Die Mehrwertsteuer wäre der bessere Hebel. Sie ist unbürokratisch, schnell und wirkt automatisch stärker, wenn die Preise noch höher schießen sollten. Gleichzeitig macht Lindner aber deutlich, dass er explizit gegen ein Energieembargo ist, um die Preise nicht weiter anzutreiben. Auch Wirtschaftsminister Habeck scheint eine klare Haltung dagegen zu haben. Er sagte in bereits erwähnter Pressekonferenz:
“Ich würde mich nicht für ein Embargo auf russische Importe von fossilen Energien einsetzen, ich würde mich sogar dagegen aussprechen, weil wir damit den sozialen Frieden in der Republik gefährden”
An anderer Stelle wurde Habeck noch klarer:
“Wir reden nicht über individuelle Komforteinschränkungen, sondern darüber, dass gesamtwirtschaftliche, ich würde sagen: gesamtgesellschaftliche Schäden schwersten Ausmaßes das Durchhalten von allen möglichen Sanktionen gefährden können.”
Freiwillige Wirtschaftskrise
Bei der Frage über ein Energieembargo geht es nicht nur um die Bereitschaft zum individuellen Energiesparen oder um Zahlungsbereitschaft für hohe Spritpreise. Das wird häufig unterschätzt. Es geht um eine handfeste Wirtschaftskrise mit drohender Massenarbeitslosigkeit - und unkalkulierbaren politischen Folgen.
Russland ist ein großer Handelspartner von Deutschland. 2021 wurden Waren im Wert von rund 59,8 Milliarden Euro zwischen beiden Staaten gehandelt. Die Importe aus Russland beliefen sich auf 33,1 Milliarden Euro und die Exporte nach Russland auf gut 26,6 Milliarden Euro. Bereits heute ist der Handel durch Exportkontrollen und Finanzsanktionen stark eingeschränkt. Bei einem zusätzlichen Energieembargo käme er wohl ganz zum Erliegen. Die deutsche Wirtschaft würde demnach Einkommen in einer Größenordnung von 26,6 Milliarden Euro verlieren. Doch das ist längst nicht alles. Denn russische Energie ist Teil von etlichen Produkten in deutschen Lieferketten. Wenn Öl, Gas und Kohle fehlen, dann drohen Produktionsausfälle, Engpässe und Preisschübe auch an ganz anderen Stellen. Die FAZ schreibt zur Bedeutung von Gas für die Industrie etwa:
“Zuletzt stand die Chemie für 24 Prozent des industriellen Gasverbrauchs, das Metallgewerbe für 22 Prozent. Die ohnehin gebeutelte Glas- und Keramikherstellung sowie Papierproduktion folgen mit acht und sieben Prozent: Im Verhältnis zum Umsatz ist hier der Gaseinsatz am höchsten.”
Auch Sebastian Dullien, Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und Tom Krebs, Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim, befürchten große Folgeeffekte und Produktionsausfälle. Im Spiegel schreiben sie:
“Industriebetriebe mit hohem Energieverbrauch müssten mit Rationierung rechnen und den Betrieb herunterfahren oder die Produktion ganz einstellen. Das beträfe nicht nur jene Unternehmen, die Erdgas etwa für Prozesswärme benötigen, sondern potenziell auch Stahlwerke, die russische Kohle verheizen, und Großverbraucher von Strom, weil Erdgas und russische Kohle in der Elektrizitätserzeugung eingesetzt werden. Das würde Kaskadeneffekte auch für andere Unternehmen nach sich ziehen: Wie wir in den vergangenen beiden Jahren schmerzhaft etwa in der Automobilindustrie gesehen haben, kann eine kleine Störung in den komplexen Wertschöpfungsketten einer modernen Volkswirtschaft erhebliche Auswirkungen auf die Produktion nachgelagerter Unternehmen und angrenzender Branchen haben. Besonders betroffen von solchen Effekten wären dann die Produktion und Arbeitsplätze in der Chemie-, Stahl- und Autoindustrie.”
Hinzukommt, dass Erdgas auch Grundstoff für die Ammoniakherstellung und damit wichtig für die Düngemittelproduktion ist. Auch in der Landwirtschaft drohen ohne russisches Gas also Produktionsengpässe und Preissteigerungen. Mit etwas Vorlauf und höheren Kosten könnten russische Energieträger in einigen der genannten Lieferketten sicher ersetzt werden. Aber selbst da, wo schon Alternativen bestehen, bedarf es technischer Umrüstungen und behördlicher Genehmigungen, die nicht von heute auf morgen gemacht sind. Mit einem kurzfristigen Importstopp verträgt sich das nicht.
Wo es wann in welchem Umfang zu Ausfällen und Preisschüben käme, ist wohl schwer vorherzusagen. Dass die Wirtschaft von einzelnen Importen so abhängig ist, ist auch der Preis globalisierter und auf Effizienz getrimmter Produktionsverfahren. Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf Lieferketten und Verbraucherpreise sollte hier eigentlich schon das mahnende Beispiel gewesen sein.
Als wäre das nicht alles schon genug, kommt obendrauf noch die Gefahr, dass eine konservative Wirtschaftspolitik die Auswirkungen eines Importstopps noch verschlimmern könnte. Die bereits seit Monaten laufende Diskussion um steigende Zinsen zur Inflationsbekämpfung sei hier nur ein Beispiel. Weitere Preisschübe könnten Anlass für die Europäische Zentralbank sein, die Zinsen schneller zu erhöhen. Höhere Zinsen erschweren einerseits private Investitionen und andererseits - unter den Bedingungen der deutschen Schuldenbremse und der europäischen Schuldenregeln - auch öffentliche Investitionen. Zinserhöhungen gegen Inflation funktionieren, wenn überhaupt, nur über ein Abwürgen der Wirtschaft - auf Kosten der Lohnabhängigen, die dann Jobs und Einkommen verlören.
Heißt: Ein Embargo trifft nicht gezielt die russischen Oligarchen aus dem Putin-Apparat, sondern bewirkt eine unkalkulierbare Wirtschaftskrise, womöglich mit schlimmeren Verwerfungen als die Coronakrise. Diese immensen Kollateralschäden gehen auf Kosten der Arbeiter, der Arbeitslosen, und der Rentner - in Deutschland wie in Russland. Im F.A.S.-Interview sagte Habeck deshalb zurecht:
“Wir reden bei einem sofortigen Importstopp über Hunderttausende Menschen, die ihre Arbeit verlieren.”
Wofür braucht Putin unsere Euros?
Diese hohen Kosten müssen aber ja auch für etwas gut sein. Tatsächlich haben Befürworter ein sehr erstrebens- und wünschenswertes Ziel im Blick. Sie gehen davon aus, dass ein Energieembargo Putins Fähigkeit, Krieg zu führen, schmälern würde. Der Grund: Unsere Gas-Einkäufe würden dann nicht länger Putins Kriegskasse “finanzieren”. Wie genau diese “Finanzierung” laufen soll, wird selten genauer ausgeführt. Das sollte auch nicht wundern, sind die lautesten Befürworter doch Prominente, Politiker und Aktivisten, die sonst nicht viel mit Geldsystem und Wirtschaftspolitik am Hut haben. Auch scheint es, als würden Journalisten gar nicht genauer nachhaken, weil als Konsens angenommen wird, dass Putin unsere Euros braucht. Aber ist das wirklich so?
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