Raus aus dem Ego-Kapitalismus
Eine exklusive Leseprobe aus »Raus aus dem Egokapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen«
»Den Kapitalismus kritisiert, das haben schon viele, vor allem von links. Patrick Kaczmarczyk hat einen neuen Ansatz gewählt. Der Ökonom stellt der neoliberalen Ego-Ideologie die christliche Soziallehre entgegen. Papst gegen Merz, Kirche gegen Freihandel, Nächstenliebe gegen Ungleichheit. Schnell wird dann klar: Die Wirtschaftspolitik der CDU etwa ist gar nicht mehr so christlich, und ihre Sozial- oder Klimapolitik auch nicht. Kaczmarczyk, Berater bei der UNCTAD und Referent für Wirtschaftspolitik im SPD-Wirtschaftsforum, entlarvt die Mythen des Kapitalismus, beschreibt den Zustand der Welt und leitet aus der Soziallehre einen Gegenentwurf ab. Hat man so noch nicht gelesen, sollte man aber unbedingt – auch, wenn man sonst nicht viel mit Religion oder der Institution Kirche anfangen kann.« - Maurice Höfgen
Soziale Missstände – wen juckt`s`?
Der „natürliche Markt“ als Wunderwaffe für jedes Problem der Welt wird als Antwort im Kampf gegen den Klimawandel ausfallen. Allerdings ist der antiquierte Glaube an „den Markt“ nicht das einzige Problem. Eine weitere Absicht dieses Buches ist es, den Finger ganz tief in eine Wunde zu legen, die im Klimadiskurs oft viel zu kurz kommt: Egal, ob der Staat auf „den Markt“ setzen oder selbst industriepolitisch aktiv werden sollte: in den meisten Fällen werden die Herausforderungen allein auf das Klima reduziert. Dies suggeriert, dass wir alle Probleme aus der Welt geschafft hätten, wenn unser heutiges Wirtschaftssystem nur „grün“ wäre. Doch wagen wir einen ehrlichen Blick in den Spiegel: Selbst, wenn wir mit dem Schwung eines Zauberstabs den schädlichen Teil der Treibhausgase aus der Atmosphäre zaubern und unsere Wirtschaft von einer Sekunde zur nächsten emissionsfrei und ressourcenschonend machen könnten, wären wir immer noch weit weg von einer Welt, die wir reinen Gewissens als gut und gerecht bezeichnen könnten.

Inmitten überbordenden Reichtums an der Spitze müssen immer noch 1,8 Milliarden Menschen von weniger als 3.65 US-Dollar am Tag leben, davon 650 Millionen sogar unter der internationalen Armutsgrenze von 2,15 US-Dollar. 2 Milliarden Menschen weltweit haben derzeit keinen gesicherten Zugang zu sauberem Wasser, 4,2 Milliarden Menschen zu gesicherten Sanitäranlagen. 768 Millionen Menschen gelten als unterernährt – 91 Prozent davon leben in Asien und Afrika. Jeden Tag sterben immer noch weit mehr als 10.000 Kinder, meist aus vermeidbaren Gründen.
In einer Welt des Überflusses geht es aber nicht nur um die absolute, sondern auch um die relative Armut. Dass wir heute in den reichen Ländern des globalen Nordens zum Beispiel eine bessere soziale Absicherung haben als im Mittelalter oder in den Ländern der Dritten Welt, sollte einerseits eine Selbstverständlichkeit sein, andererseits aber nicht den Blick dafür verstellen, dass das Leben im Niedriglohnsektor und in prekären Beschäftigungsverhältnissen auch bei uns brutale materielle Not bedeutet, die Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließt, und sie psychisch und physisch krank werden lässt. Die relative Armut wird in Relation zum Medianeinkommen, das heißt, dem mittleren Verdienst, berechnet. 50 Prozent der Einkommen liegen über diesem Wert, 50 Prozent darunter. In Deutschland liegt das verfügbare Nettomedianeinkommen für einen Singlehaushalt bei circa 1.900 Euro. Die Schwelle zur relativen Armut setzt entsprechend bei ungefähr 1.150 Euro an. Die neoliberalen Zyniker, die behaupten, Armut wäre in einem reichen Land wie Deutschland nicht vorhanden, würden in den meisten Fällen von einem solchen Einkommen keine drei Tage über die Runden kommen. Und wer mal in einer Großstadt wie Berlin oder München eine Wohnung gesucht oder sich die Entwicklung der Lebensmittelpreise in den letzten Jahren angeschaut hat, der wird auch ohne Bestnoten in Mathe schnell feststellen, wie schwierig, ja fast unmöglich es ist, mit 1.150 Euro im Monat durchzukommen.
Bei Hartz-IV-Empfängern (seit 2023 Bürgergeld genannt), die in den Medien gerne als „Schmarotzer“ dargestellt werden, denen es viel zu gut geht, sieht es da nicht besser aus: Die „angemessene Bruttokaltmiete“, die vom Staat bezahlt wird, richtet sich nach dem örtlichen Mietspiegel. Im extrem teuren München sind es zum Beispiel 688 Euro für einen Singlehaushalt. Im günstigeren Hildesheim 396 Euro. Der Regelsatz beträgt (noch) 502 Euro pro Monat für eine Person. Stromkosten müssen selbst getragen werden. Für Bildung sind monatlich (!) 1,81 Euro vorgesehen, für „Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen" sind es ganze 13,11 Euro. 41,65 Euro beträgt der Posten für Kleidung und Schuhe, und 174,19 Euro für Nahrung und Getränke, was ungefähr 5,80 Euro pro Tag entspricht. Dafür kriegt man in Berlin nicht einmal mehr einen Döner. Es sollte uns nicht überraschen und ist empirisch mittlerweile hinreichend belegt, dass die sozialen und gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen verheerend sind. In der Gesellschaft gelten die Ärmsten oft dennoch als die größten Sündenböcke, die sich vom Rest der Gesellschaft durchfüttern lassen.
Die knallharten Realitäten für weite Teile der Gesellschaft werden in Deutschland gerne verdrängt, oft mit dem stolzen Verweis auf die „Soziale Marktwirtschaft“. Aber wie viele Menschen empfinden diesen Begriff inzwischen nur noch als Hohn? Wenn man seinen Lebensunterhalt im Niedriglohnsektor verdienen muss – was hierzulande auf jeden Fünften zutrifft (vor allem Frauen, von denen fast jede Vierte im Niedriglohnsektor arbeitet) –, wenn man aufgrund von Sparwahn und Lohndrückerei nur noch von der Hand in den Mund leben kann – mit der Folge, dass die „unteren“ 40 Prozent der Bevölkerung in den letzten Jahren keine nennenswerten Ersparnisse aufbauen konnten –, wenn man ständig von befristeten Arbeitsvertrag abhängig ist, wenn man aus der Großstadt oder im Erwachsenenalter in eine WG ziehen muss, weil die Mieten unbezahlbar sind, wenn man sich jahrzehntelang im Beruf abstrampelt und am Ende die Rente nicht zum Leben reicht – wie kann man da allen Ernstes noch von einer „sozialen“ Marktwirtschaft sprechen? Und wie ist das möglich, wenn wir bei all dem eine Vermögensungleichheit berücksichtigen, die Ausmaße angenommen hat, wie es sie seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat? Ja, in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen wird immer klarer, dass von der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr viel Soziales übriggeblieben ist. Aus diesem Grund schlägt sich der Frust auch im Erfolg populistischer Parteien nieder. Man kann sich gerne einreden, dass dieser Erfolg aus dem Ausland gesteuert wird und die Menschen sich durch Lügen aus dem Internet beeinflussen lassen, doch die Fragilität westlicher Demokratien und das hohe Maß an Politikverdrossenheit ist in erster Linie eine Folge dessen, dass der neoliberale Kapitalismus, der uns seit den 1980er Jahren die große Freiheit versprochen hat, für weite Teile der Welt und der Gesellschaft nie funktioniert hat.
»Der Markt als Mittel zum Zweck, sozusagen. Oder, um es anders auszudrücken: Wir brauchen eine Wirtschaft im Dienste des Menschen, und nicht Menschen im Dienste der Wirtschaft.«
Die nackten Zahlen führen uns eine bittere Wahrheit vor Augen: Eine emissionsfreie Transformation des heutigen Modells würde immer noch eine Wirtschaft hervorbringen, in der unglaublich viel im Argen liegt. Selbst ohne Emissionen hätten wir weiterhin denselben schädlichen wirtschaftspolitischen Individualismus, unfaire Handels- und Finanzbeziehungen, die die Armen bei uns und weltweit in der Entfaltung ihrer Potenziale behindern. Darüber darf man nicht hinwegsehen. Die soziale und die ökologische Krise müssen zusammen gedacht werden, wenn wir von genuinem Fortschritt sprechen und die Krisen unserer Zeit nachhaltig überwinden wollen. Im Laufe des Buches werden wir tatsächlich noch sehen, wie fundamental die beiden Krisen miteinander verwoben sind.
Ein anderes Marktdenken
Um aus der Misere rauszukommen, braucht es eine Vision für unsere Gesellschaft und Wirtschaft. Zur Entwicklung einer solchen Vision, wie wir in Zukunft leben wollen, braucht es wiederum eine Debatte, die über das eigene Ich hinausgeht. Zwangsläufig. Und hier besteht ein großer Konflikt mit dem naiven marktliberalen Dogma der letzten Jahrzehnte, denn im Kern bedeutet das Vertrauen auf „den Markt“, dass wir uns um eine bestimmte gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ordnung keine Gedanken machen sollen. Sofern „der Markt“ bereits jegliche Dimension unseres Daseins dominiert, werden wir automatisch in der besten aller möglichen Welten leben.
Das war nicht der Ansatz, der hinter der einzigen, relativ stabilen Epoche des Kapitalismus in der Nachkriegszeit stand (wenngleich in jener Zeit längst nicht alles rosig war). Es wird auch nicht der Ansatz sein, der uns aus der sozialen und ökologischen Krise führen wird. Wir werden dazu eine viel ganzheitliche Herangehensweise an die Organisation unserer Wirtschaft und der internationalen Zusammenarbeit brauchen, in der die Regeln des Marktes so gesetzt werden, dass die Wirtschaft – innerhalb der planetaren Grenzen – ein Dienstleister zur Schaffung des Wohlstands und einer Verbesserung der Lebensqualität wird. Der Markt als Mittel zum Zweck, sozusagen. Oder, um es anders auszudrücken: Wir brauchen eine Wirtschaft im Dienste des Menschen, und nicht Menschen im Dienste der Wirtschaft.
Ein solches Umdenken in der Wirtschaftspolitik bedeutet natürlich kein Plädoyer für ein planwirtschaftliches Mikromanagement des Staates. Es geht darum, ein Regelwerk auszuarbeiten, das die Funktionsweise der Wirtschaft bestimmten gesellschaftspolitischen Zielen unterordnet und dafür sorgt, dass der internationale Handel für alle funktioniert, nicht nur für einige wenige. Zu den übergeordneten Zielen gehört, dass Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge in guter Qualität und ausreichender Quantität vorhanden sind, um niemanden in Existenznöte zu stürzen, dass die Belastbarkeitsgrenze des Planeten nicht überschritten wird, dass der wirtschaftliche Wettbewerb von Unternehmen (nicht Staaten) über Unterschiede in der Produktivität (nicht Lohnsenkungen) ausgetragen wird, dass die Masse der Menschen vom technologischen Fortschritt profitiert und jedes Land (insbesondere im globalen Süden) die Chance dazu bekommt, sich aus eigener Kraft einen Kapitalstock aufzubauen und zu entwickeln. Dass ein solches Regelwerk niemals perfekt sein und immer wieder nachjustiert werden wird, versteht sich von selbst.
Das war eine exklusive Leseprobe aus dem Buch »Raus aus dem Egokapitalismus: Für eine Wirtschaft im Dienste des Menschen«, erschienen am 18. September 2023 im Westend-Verlag.
Wenn Kacmarek schreibt »Oder, um es anders auszudrücken: Wir brauchen eine Wirtschaft im Dienste des Menschen, und nicht Menschen im Dienste der Wirtschaft.« ist das ja nichts neues. Der Altmeister aus Trier hat einen nicht unerheblichen Teil seines lebens mit der analyse dieses Phänomens zugebracht.
In Kurzform geht das so:
In unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung werden die benötigten Güter und Dienstleistungen (die „Lebensmittel“ im weitesten Sinne) als „Waren“ produziert. Über „Kauf“ und „Verkauf“ werden sie ihrer Bestimmung zugeführt, menschliche Bedürfnisse (seien sie gesamtgesellschaftlich oder individuell) zu befriedigen.
„Waren“ haben ein doppeltes Gesicht. Einerseits sind sie Träger von "Wert" und anderseits nützliche Dinge. Die Menschen brauchen die nützlichen Dinge. Die ökonomischen Einheiten, die Wirtschaftssubjekte, brauchen im Kapitalismus den „Wert" oder den „Mehrwert“. Bei der Produktion von „Mehrwert“ ist es völlig wurscht, mit welchen Produkten der „Mehrwert“ erzielt wird. Jacken wie Hosen, Vorlesungen über Ökonomie an der Uni oder Braunkohleabbau, für die Produktion von „Mehrwert“ ist die „Qualität“ der Produkte unerheblich. Für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gilt dies nicht.
Aus diesem Widerspruch erwachsen die Scheußlichkeiten des Systems. Und die nicht mehr beherrschbaren Zumutungen. Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, indem das warenförmige System aufgehoben wird. Das heißt die Basiskategorien des Kapitalismus, „Ware“, „Wert“, „Geld“, „Zins“ und „Kapital“ und deren Ableitungen müssen aufgehoben und transformiert werden. Ohne diese Aufhebung bleiben alle gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen vergebliche Liebesmüh. Fürchte ich.
Ein erster Schritt wäre, diesen Sachverhalt zu verstehen. Davon ist die Menschheit jedoch meilenweit entfernt. Ivan Illich, Erich Fromm, Rudi Dutschke und Robert Kurz sind tot. Es leben Kevin Künast, Annalena Baerbock, Hans-Werner Sinn und Veronika Grimm. Na dann.
P.s.: Ich bin 73. Und meine Rest-Lebenszeit auf diesem Planeten somit überschaubar. Wo bleiben jedoch die 20-, 30-jährigen, die sich den postmodernen Mist nicht mehr länger bieten lassen? Die begreifen, dass der ganze gesellschaftliche Zirkus auf den tönernen Füßen von "Ware", "Wert" und "Geld" beruht, die nichts anderes sind, als eine Verschleierung des Phänomens, das wir "Leben" nennen.
Wer es nicht glaubt: Einfach mal die Bilanz eines x-beliebigen Unternehmens anschauen. In dieser Bilanz werden qualitativ völlig verschiedene Dinge auf eine einzige Größe reduziert. Auf den "Wert" in einer x-beliebigen Währung. Und die Quantität dieser Größe bestimmt unser Leben. Bekloppt, oder?
Im Original liest sich das wie folgt. Im dritten Band von "Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie" ist zu lesen:
»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.
Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. <b>Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.</b> Aber es bleibt dies immer in Reich der Notwendigkeit.
Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.«