Analyse zu Ost-Wahlen: Protest oder Rechtsruck?
Die wichtigsten Erkenntnisse nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen und was daraus jetzt folgen könnte
1,1 Millionen Menschen haben gestern in der Wahlkabine ihr Kreuz bei der AfD platziert – und sie damit zum Wahlsieger gemacht. Platz 1 in Thüringen, Platz 2 in Sachsen. Der gestrige Tag, der 1. September 2024, wird einen Platz in den Geschichtsbüchern bekommen: Zum ersten Mal in der Bundesrepublik hat eine rechtsextreme Partei eine Landtagswahl gewonnen. Eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextreme eingestufte Partei wohlgemerkt. Wie es dazu kommen konnte, verraten die Zahlen.
Die wichtigsten Erkenntnisse
Gutes zuerst: Deutschland ist politisch, es gab eine rekordhohe Wahlbeteiligung. Björn (oder Bernd?) Höcke verpasst das Direktmandat in seinem Wahlkreis, zieht aber trotzdem in den Landtag ein. Die FDP wird in beiden Landtagen nicht vertreten sein, kommt nur auf ein Prozent der Wählerstimmen und – „fun fact“ – hat in Sachsen sogar weniger Stimmen als die Tierschutzpartei.
Arme und Arbeiter wählen AfD und BSW statt SPD und Linke. Die Hälfte der Wähler, die ihre finanzielle Lage als „schlecht“ einordnen, haben der AfD ihre Stimme gegeben. Das gleiche gilt für Arbeiter. In Sachsen kommen SPD und Linke hingegen unter Armen nicht einmal auf zehn Prozent der Stimmen. BSW dafür auf 14 Prozent, in Thüringen sogar auf 17 Prozent. Noch drastischer: in Sachsen haben nur sechs Prozent der Arbeiter ihre Stimme an SPD und Linke gegeben, in Thüringen nur 12 Prozent.
Der typische AfD-Wähler sieht so aus: Mann, einfache Bildung, schmaler Geldbeutel, wohnt auf dem Land. Die Zahlen zeigen: die AfD wird im Schnitt eher von Männern als von Frauen gewählt; auffallend deutlich eher von Menschen mit einfacher Bildung als mit hoher Bildung; und ebenso deutlich eher von Menschen in kleinen Gemeinden im ländlichen Raum als in Städten und urbanen Zentren wie Leipzig.
Die AfD zieht bei Jungen mehr als bei Alten. Im Vergleich zu 2019 hat die AfD sowohl in Sachsen als auch in Thüringen die größten Stimmenzuwächse unter 18-24-Jährigen geholt. Bei Über-70-Jährigen hingegen schneidet sie am schlechtesten ab und verzeichnet nur geringe Zugewinne. Im Gegensatz zu BSW und CDU, die bei Älteren deutlich besser abschneiden als bei Jüngeren.
It‘s the economy, stupid. Die deutliche Mehrheit der Wähler bewertet die wirtschaftliche Lage als schlecht. Vor allem AfD- und BSW-Wähler. Grünen- und SPD-Wähler finden die Lage dagegen mehrheitlich gut (entgegen allen Konjunkturdaten). In Thüringen haben 38 Prozent der Wähler angegeben, dass sich die Lebensumstände über die letzten Jahre in der eigenen Gegend verschlechtert haben, vor allem bei der ärztlichen Versorgung sowie Schulen und Kitas. Nur 20 Prozent antworteten, die Lebensumstände in der eigenen Gegend seien besser worden. Außerdem: Fast jeder fünfte Wähler gab an, dass die persönliche wirtschaftliche Situation schlecht sei – 2019 gab das nur jeder siebte an. Überhaupt war 2019 die Stimmung viel besser: damals fanden Zweidrittel der Wähler in Thüringen und Dreiviertel der Wähler in Sachsen die Lage sogar gut (heute nur 30 bzw. 39 Prozent).
Kriminalität, innere Sicherheit und Zuwanderung waren die entscheidenden Wahlkampfthemen, bei AfD-Wählern sogar mit großer Mehrheit. Dahinter liegen soziale Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung, die vor allem für CDU-, BSW-, und SPD-Wähler am wichtigsten waren. Außer bei den Grünen-Wähler war der Klimaschutz (leider) nicht wahlentscheidend, verlor vor allem im Vergleich zu 2019 deutlich an Relevanz. Bitter!
Deutlich mehr Menschen als 2019 und mehr als die Hälfte der Wähler finden gut, dass die AfD den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen begrenzen will. Wohlgemerkt obwohl Sachsen und Thüringen zu den Bundesländern gehören, in denen mit die wenigsten Ausländer leben – deutlich weniger als zehn Prozent sogar. Zum Vergleich: In Berlin sind es 23 Prozent, in Baden-Württemberg 18,5 und in NRW und Bayern jeweils 16 Prozent.
Bemerkenswert: In Thüringen wie in Sachsen sagen dreiviertel aller Wähler, Ostdeutsche seien „an vielen Stellen noch immer Bürger zweiter Klasse“ und Wirtschaft und Politik immer noch zu stark von Westdeutschen bestimmt. Die Linke hat in beiden Ländern massiv an Vertrauen verloren, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten; AfD und BSW hingegen deutlich an Vertrauen gewonnen.
Mehr als 80 Prozent der Wähler sind unzufrieden mit der Bundesregierung. So viele wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr – vor allem AfD- und BSW-Wähler. Fast 60 Prozent der Wähler sehen die Wahl als Denkzettel an die Ampel, wiederum vor allem AfD- und BSW-Wähler. Ungefähr die Hälfte der AfD- und BSW-Wähler wählte aus Enttäuschung über die anderen Parteien, also: aus Protest.
Die AfD profitiert davon, dass der Osten noch immer wirtschaftlich abgehängt ist und die Infrastruktur verfällt; dass die Wirtschaft seit vier Jahren kriselt und die Menschen wegen Pandemie und Inflation ärmer geworden sind; und dass der Klimawandel, die Alterung der Gesellschaft, die Zuwanderung und kulturelle Veränderungen die Menschen verunsichern.
Die größte Kompetenz wird der AfD bei Kriminalitätsbekämpfung und Asylpolitik zugeschrieben. Die größten Zuwächse bei der Kompetenz hat die AfD aber bei Arbeitsplätzen und Wirtschaft. BSW wiederum punktet am meisten mit sozialer Gerechtigkeit und der Politik gegenüber Russland und der Ukraine. Die CDU hat in fast allen Kompetenzfeldern verloren, am stärksten in Sachen Wirtschaft. Dort wird ihr so wenig Kompetenz zugeschrieben wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Und dennoch trauen ihr die meisten Leute zu, Arbeitsplätze zu sichern und die Wirtschaft voranzubringen.
SPD und Linke haben bei ihrer Kernkompetenz am stärksten verloren: soziale Gerechtigkeit. Die Linke sogar 18 Prozentpunkte in Sachsen und Thüringen. Nie waren die Zuschreibungen bei dem Thema schlechter. Auch wird beiden Parteien nur geringe und sogar immer weniger Wirtschaftskompetenz zugeschrieben. Bitter: Der AfD trauen in beiden Ländern die meisten Leute zu, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
BSW zerstört die Linke, nicht aber die AfD. Die meisten Wähler gewann das BSW von der Linken, vorherigen Nichtwählern und der CDU, die wenigsten von den Grünen. Schwächer als erwartet nimmt das BSW aber der AfD Wähler ab. Nur schätzungsweise 11.000 Wähler in Thüringen und 23.000 in Sachsen wanderten von der AfD zum BSW. Von einer „Halbierung der AfD“ ist BSW weit entfernt. Denn: Wären die BSW-Abwanderer bei der AfD geblieben, wäre das AfD-Ergebnis in beiden Ländern gerade einmal rund einen Prozentpunkt größer ausgefallen. Mit anderen Worten: BWS hat der AfD nicht 16 Prozentpunkte der Stimmen genommen („die Hälfte“), sondern: einen Prozentpunkt! Wobei, so fair muss man sein, diese Rechnung nicht berücksichtigt, dass ohne BSW vielleicht auch mehr Nichtwähler die AfD gewählt hätten. Selbst wenn man aber alle BSW-Stimmen von vorherigen Nichtwählern der AfD zurechnet, kommt man nur auf drei bzw. vier Prozentpunkte – sprich: ein Zehntel aller Stimmen, aber nicht die Hälfte.
Und nun?
Was unterm Strich bleibt: Die Stimmung kippt weiter nach rechts. Besonders in ländlichen Gebieten in Ostdeutschland sind rechtsextreme Haltungen verbreitet. Die Wahl war aber auch Protest gegen und ein Denkzettel für die Ampel. Das BSW zerstört die Linke, nicht die AfD. „Ausländer raus“-Populismus macht das Thema wichtiger, als es ist, und wird als Sozialpolitik missverstanden. Die AfD profitiert davon, dass der Osten noch immer wirtschaftlich abgehängt ist und die Infrastruktur verfällt; dass die Wirtschaft seit vier Jahren kriselt und die Menschen wegen Pandemie und Inflation ärmer geworden sind; und dass der Klimawandel, die Alterung der Gesellschaft, die steigende Zuwanderung und kulturelle Veränderungen die Menschen verunsichern.
Was politisch folgt: Die AfD bekommt in Thüringen die Sperrminorität und kann noch mehr als bisher die Regierung blockieren. Und das BSW wird kurz nach der Gründung schon regieren müssen. Mehrheiten ohne BSW und AfD gibt es faktisch nicht. Sahra Wagenknecht wird das nicht gefallen, lebte BSW doch vom Dagegensein und Meckern, nicht von konstruktiven Vorschlägen oder gar vom Gestalten. Und eine womöglich schlechte Regierungsperformance im Land dürfte für die Bundestagswahl nicht förderlich sein. Zumal das BSW mit der CDU in Sachen Wirtschaft und Soziales große Kompromisse wird eingehen müssen.
Ein guter Nebeneffekt: BSW-Spitzenkandidatin Zimmermann (Sachsen) deutete an, eine Reform der Schuldenbremse zur Bedingung für eine Koalition mit der CDU zu machen. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) kritisierte die Schuldenbremse selbst in der jüngeren Vergangenheit und scheint offen für eine Reform, mindestens aber eine großzügige Umgehung in Form eines Sondervermögens für die Infrastruktur.
Und die Ampel? Die sollte schleunigst alles dafür tun, die Wirtschaft ans Laufen zu bekommen und die Geldbeutel derer zu füllen, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen. Damit sie bis zur Bundestagswahl wenigstens die Protestwähler gedreht bekommt. Denn diejenigen, die die AfD wegen ihrer migrationskritischen und gar rechtsextremen Positionen wählen, wird die Ampel nicht gewinnen, indem sie in der Asylpolitik das AfD-Programm light umsetzt.
Aus meiner Wahrnehmung heraus dominieren in der Berichterstattung und den Talkshows nach der Wahl nur Themen die die Bundespolitik betreffen. Themen der Länder, wie Bildung, lokale Infrastruktur und Wirtschaft, spielen in der Diskussion keine oder nur eine abstrakte untergeordnete Rolle. Die Talkshow Leiter der Medienformate in der Wahlberichterstattung greifen für mein Gefühl leider auch nie gegensteuernd in die gezeigten Diskussion ein. Für mich besteht aktuell das Gefühl unsere Medienformate sind derzeit weitestgehend unvorbereitet oder sogar unfähig den Diskurs in konstruktive Richtungen hin zu moderieren. Es sollte mehr entlarvt werden, wenn ein Politiker den Floskel- und Phrasenmodus anwirft und es fehlen sachkundige Einordnungen von genannten Argumenten durch die Moderation. Gerade die Plattformen und Formate mit hoher Reichweite müssen sich drastisch verändern um unsere Demokratie mit beschützen und stärken zu können.
Es kann auch nicht berücksichtigt werden, inwiefern Wähler von anderen Parteien, anstatt zur AfD zu gehen, zu BSW gewechselt sind. Auch so fair muss man sein.