Der Schock für die Eurozone, über den keiner redet
Warum sich Belgien empören sollte und die EZB die nächste Krise verpeilt
Man muss nicht viel von Statistik verstehen, um zu wissen: Der Durchschnitt ist ein tückisches Maß. Warum, ist mit einem Beispiel schnell erklärt. Im Durchschnitt besitzen deutsche Haushalte ein Nettovermögen von 316.500 Euro. Klingt ja erst mal gut! Leider verrät der Durchschnitt aber nicht, dass die ärmsten zehn Prozent gar nichts besitzen und sogar verschuldet sind, während Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz alleine rund 40 Milliarden Euro besitzt. Ups!
Deshalb: Augen auf bei Durchschnitten. Allerdings hat sich diese Erkenntnis bei der Europäischen Zentralbank leider noch nicht durchgesetzt. Bei der Inflationsrate schaut die EZB nämlich immer auf den Durchschnitt über alle zwanzig Euroländer – und entscheidet danach, ob sie die Zinsen erhöht oder nicht. Die Gefahr: Für Länder mit niedriger Inflation kann der Zins also viel zu hoch sein. In Belgien sollte man sich darüber empören.
Ein Zins, zwanzig Inflationsraten
Im Oktober lag die jährliche Inflationsrate bei 2,9 Prozent – im Durchschnitt. Die Unterschiede zwischen den Ländern waren aber riesig. Über dem Schnitt lagen Deutschland mit 3,0, Spanien mit 3,5, Frankreich mit 4,5, Österreich mit 4,9 und die Slowakei mit 7,8 Prozent. Unter dem Schnitt lagen Finnland mit 2,4, Italien mit 1,9, die Niederlande sogar mit minus 1,0 und Belgien mit minus 1,7 Prozent.
Belgien und die Niederlande haben sich offensichtlich viel schneller von dem Preisschock erholt als Frankreich und Deutschland. Der Zins, den die Zentralbank zehnmal in Folge auf mittlerweile 4,5 Prozent angehoben hat, gilt aber auch für Belgien und die Niederlande. Nur ist der Zins für diese Länder eben völlig unangemessen – und richtet großen Schaden an. Sogar noch größeren Schaden als in Deutschland, denn für die Investitionen der Unternehmen zählt vor allem der Realzins, sprich: die 4,5 Prozent der EZB minus der Inflationsrate. Daraus ergibt sich für Frankreich im Oktober einen Realzins von null, für Deutschland von 1,5 und für Belgien von 6,2 Prozent. Der Zinshammer knüppelt in Belgien und der Niederlande also viel härter auf die Konjunktur ein als in Deutschland. Wäre ich dort Wirtschafts- oder Finanzminister, ich wäre davon ziemlich abgenervt.
So kann eine Währungsunion nicht funktionieren
Das führt uns zu einem noch viel grundsätzlicheren Problem. Eine Währungsunion funktioniert dann am besten, wenn alle Mitgliedsländer jedes Jahr genau die gleiche Inflationsrate erreichen. Denn sonst gewinnt das Land mit niedriger Inflation gegenüber den Ländern mit höherer Inflation an Wettbewerbsfähigkeit.
Beispiel: Wenn ein Land A jedes Jahr eine Inflation von einem Prozent und Land B eine Inflation von zwei Prozent hat, dann sind nach zehn Jahren die Produkte von Land A auf den Weltmärkten zehn Prozent günstiger als die von Land B – bei gegebener Qualität. Ohne Währungsunion könnte das nicht passieren, weil der Wechselkurs sich jedes Jahr anpassen und das Land mit niedriger Inflation aufwerten würde. Wenn aber beide Länder den Euro haben, gibt es keinen Wechselkurs und keine Korrektur. Interne Abwertung nennen Ökonomen das Phänomen.
Man muss es so klar sagen: Deutschland hat mit Niedriglöhnen seine Nachbarn niederkonkurriert und ist schuld an der Deindustrialisierung in Frankreich und Italien.
Seit dem russischen Angriffskrieg gehen die Inflationsraten zwischen den Euroländern stark auseinander. Je stärker ein Land von dem Energiepreisschock getroffen war und je länger es braucht, bis die Preise wieder sinken, desto mehr verliert es an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den anderen. In der Eurozone läuft gerade neben dem reinen Preisschock also auch ein interner Abwertungsschock, den die EZB aber komplett verpeilt. Warum? Weil man Frankfurter Bankentower fälschlicherweise nur auf den Durchschnitt schaut!
Exportweltmeiste rauf Kosten der Nachbarn
Nicht zu vergessen außerdem: Deutschland hat die interne Abwertung in den 2000ern als bewusste Strategie umgesetzt, wohlgemerkt unter rot-grüner Regierung. Denn mit der Agenda 2010 hat Schröder damals die deutschen Lohnstückkosten massiv gesenkt. Bis heute bleibt die deutsche Lohnstückkostenentwicklung hinter den Nachbarn zurück, wie die Grafik unten zeigt.
Niedrige Zuwächse bei den Lohnstückkosten führen zu niedriger Inflation, weil Löhne neben Energie eine der wichtigsten Kostenfaktoren in der Produktion sind. Das wiederum hat vor allem Frankreich und Italien unter Druck gebracht. Wenn nämlich die Preise für deutsche Produkte langsamer steigen als die für französische und italienische Produkte, dann gewinnen die deutschen Produkte auf dem Weltmarkt an Marktanteilen. Deutschland ist genau damit zum Exportweltmeister geworden. Man muss es so klar sagen: Deutschland hat mit Niedriglöhnen seine Nachbarn niederkonkurriert und ist schuld an der Deindustrialisierung in Frankreich und Italien.
Wie gesagt: Ohne Währungsunion wäre das überhaupt nicht möglich gewesen, denn dann wäre die deutsche Währung im Verhältnis zur französischen und italienischen aufgewertet – der Preisvorteil wäre auf dem Weltmarkt gar nicht entstanden und Deutschland kein »Exportweltmeister«. Eine Währungsunion kann also überhaupt nur vernünftig funktionieren, wenn die Inflationsraten in allen Ländern symmetrisch sind – und Abweichungen korrigiert werden. Das gilt umso mehr, solange es in der Eurozone keine gemeinsame Fiskalpolitik gibt, die ausgleichend wirkt, wenn etwa Deutschland boomt und Italien deindustrialisiert.
Die EZB im Blindflug
Bis heute haben das aber weder die EZB noch die Regierungschefs noch die in den Medien einflussreichen Ökonomen verstanden. In den ganzen 24 Jahren seit Existenz des Euros gab es keine nennenswerte Kritik an der deutschen Unterbewertungsstrategie. Dabei hat Deutschland sogar gegen die EU-Verträge verstoßen. Die sehen nämlich vor, dass die Exportüberschüsse nicht größer als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung sein dürfen. Deutschland lag jahrelang darüber.
Besonders bitter: DIW-Präsident Marcel Fratzscher, der hierzulande als besonders fortschrittlich gilt, widerspricht der internen Abwertung sogar explizit. Auf Twitter schrieb er mir vor rund einem Jahr das hier.
»Ziel der EZB kann und darf es nicht sein, in allen Eurozone-Ländern gleichermaßen eine Inflation von 2 % zu haben. Die Anpassung relativer Preise innerhalb der Euro Zone ist wichtig.«
Wenn Fratzscher gesagt hätte, dass die EZB damit überfordert wäre, die Inflationsrate in allen Ländern zu steuern, weil sie weder Einfluss auf die Lohn- noch auf die Energiepolitik hat, könnte man damit noch d’accord sein. Das sagt er aber nicht. Er legitimiert viel mehr, dass Deutschland zwei Jahrzehnte lang die Preise auf Kosten seiner Nachbarn gedrückt hat. Und er sorgt sich auch heute nicht um die großen Inflationsdifferenzen.
Bis heute ist der Kern der Eurokrise also in weiten Kreisen nicht verstanden. Umso größer ist deshalb die Gefahr, dass sie zurückkommt. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, wenn sich ranghohe Politiker von SPD und Grüne als brennende Europäer gerieren. Statt zur Europawahl wieder gratismutige Lippenbekenntnisse in Mikrofone zu posaunen, sollte die Agenda 2010 aufgearbeitet werden. Ansonsten drohen für die Eurozone düstere Aussichten.
Gute Analyse. Zu Deutschland möchte ich noch hinzufügen, durch die Abwertung stieg zwar kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit aber mittelfristig ist der Anreiz zur Produktivitätssteigerung völlig verloren gegangen. Eigentor. Und überhaupt - ich würde weitergehen und behaupten dass Deutschland und Durchschnitt hin oder her, das ganze Konstrukt Eurozone gar nicht funktionieren kann in solch einem diversen Wirtschaftsraum. Egal was die EZB macht, irgendwem tritt sie immer auf den Fuß. (ich vermute sie hat das mir dem Durchschnitt schon recht gut verstanden) Es ist halt ein politisches Projekt.
Maurice Höfgen schreibt: »Seit dem russischen Angriffskrieg gehen die Inflationsraten zwischen den Euroländern stark auseinander«
Der Krieg in der Ukraine hat laut NATO-Generalsekretär Stoltenberg bereits 2014 begonnen. Deshalb ist die Aussage vom russischen Angriffskrieg von zweifelhaftem Wert. Warum muss man die verschiedenen Themen immer wieder unzulässig miteinander vermischen? Außerhalb des Westens blickt man ganz anders auf diesen Krieg in der Ukraine.
Die Analyse von Maurice Höfgen ist weitgehend richtig. Wieso belastet und entwertet er diese Analyse mit Äußerungen, die mit der Sache nichts zu tun haben? Verstehe ich nicht.