Drei Gründe für Japans Börsenchaos
Erst Rekordeinbruch, dann Rekorderholung: Was man über das Börsenchaos in Japan wissen muss
Gestern noch Crash, heute schon wieder Party. Japans Börse spielt verrückt. Minus 13 Prozent hatte der Leitindex Nikkei am Montag verloren, so viel wie seit 1987 nicht mehr. Vom großen Crash und Untergangsstimmung war in den Medien die Rede. Jetzt aber gibt es die Rolle rückwärts: Im Eiltempo hat sich der Nikkei von dem Sturz erholt und heute rund zehn Prozent zugelegt. Damit steht der Nikkei zwar noch immer 15 Prozent unter dem Allzeithoch von vor einem Monat, aber immerhin noch vier Prozent höher als zu Jahresbeginn. Crash? Nicht wirklich.
Offensichtlich war der freie Fall eine dramatische Überreaktion von Spekulanten – wie so häufig an der Börse. Man fragt sich: „Woran hat et jelegen?“. An diesen drei Gründen!
Grund Eins: Der Wechselkurs
Der erste Grund ist der Wechselkurs. Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine hatte der Yen gegenüber dem US-Dollar um fast ein Drittel abgewertet. Das lag vor allem daran, dass alle großen Zentralbanken der Welt ihre Leitzinsen erhöht haben, von null auf vier bzw. fünf Prozent, die japanische Zentralbank aber nicht. Bis vor kurzem. Denn letzte Woche hat die japanische Zentralbank nach 17 Jahren Null- oder Negativzins, den Leitzins erstmalig wieder in den positiven Bereich gehoben, von null auf 0,1 bis 0,25 Prozent – und, wichtig, weitere Zinserhöhungen in Aussicht gestellt. Ausgerechnet in dem Moment, wo die anderen Zentralbanken ihre Leitzinsen wieder senken. Die EZB und die Bank of England haben schon eine erste Zinssenkung vorgenommen, die US-FED es zumindest für September angekündigt. Die Folge: Die Zinswenden haben den Yen nach zwei Jahren Abwärtsfahrt nach oben katapultiert, allein in der letzten Woche ging es um zehn Prozent gegenüber dem US-Dollar nach oben.
Und was hat das mit dem Leitindex Nikkei zu tun? Nun, japanische Exporteure machen einen großen Teil des Indexes aus. Als der Yen immer weiter an Wert verlor, war das ein Segen für die Exporteure. Denn dadurch wurden japanische Produkte auf den Weltmärkten günstiger – und die Exporteure konnten kräftig Marktanteile gewinnen und ihre Profite steigern. Höhere Profite locken Anleger an und treiben die Kurse nach oben. Daher rührte also das Allzeithoch, das sogar über der Spekulationsblase von 1990 lag.
Umgekehrt sind die Anleger aber am vergangenen Freitag und Montag nach der Zinswende und der Aufwertung des Yens im großen Stil und voller Panik ausgestiegen. Denn die Yen-Aufwertung verschlechtert die Position der Exporteure, weil japanische Produkte auf Weltmärkten teurer werden und die Gewinnaussichten sich eintrüben. Da die japanische Zentralbank weitere Zinserhöhungen, die FED aber Zinssenkungen angekündigt hat (und das durch schlechte Konjunkturdaten aus den USA nochmal wahrscheinliche geworden ist), wird der Yen wohl weiter aufwerten – also die günstige Lage für die Exporteure erstmal vorbei sein. Genau darauf haben die Anleger reagiert, nämlich versucht zum Allzeithoch zu verkaufen und aus den japanischen Exporteuren auszusteigen.
Grund Zwei: Die Carrytrades
Carrytrades nennt man ein Handelsgeschäft, bei dem Investoren sich Geld in Niedrigzinsländern leihen und es in Hochzinsländern anlegen. Man nutzt die Zinsdifferenz, um Geld zu verdienen. Beliebt bei Investoren: Geld in Japan zu Niedrigzinsen aufnehmen und es in US-Anleihen oder Aktien investieren. Je größer die Zinsunterschiede zwischen den zwei Währungsräumen, desto attraktiver das Geschäft.
Weil Japan aber die Zinsen erhöht und die USA sie bald senken werden, gehen die Carrytrades bald nicht mehr auf. Um die Gewinne zu sichern, zogen Investoren deshalb ihr Geld in den letzten Tagen wieder ab. Und zwar panisch, denn die Geschäfte wurden ja mit geliehenem Geld gemacht. Entsprechend höher ist das Risiko und desto schneller versuchen Spekulanten ihre Gewinne mit Verkäufen zu sichern, bevor die Party zu Ende ist. Diese panischen Verkäufe haben den Yen gegenüber dem US-Dollar gestärkt und die Börsen geschwächt. Nicht nur der Nikkei in Japan, sondern auch der Dow Jones (minus drei Prozent) und der Nasdaq (minus fünf Prozent) in den USA verzeichneten gestern starke Rückgänge.
Übrigens: Laut VWL-Lehrbuch dürfte es diese Carrytrades gar nicht geben. Weil die Wechselkurse solche Zinsdifferenzen ausgleichen sollen. In der Praxis funktionieren die Geschäfte aber, weil die Börsen eben nicht effizient sind, sondern von Stimmungen und Herdenverhalten getrieben werden. Wechselkurse machen fundamentale Unterschiede wie Inflations- oder Zinsdifferenzen eben nicht wett, weil eine große Herde an Spekulanten mit viel geliehenem Geld in die Hochzinswährungen investiert und damit diese Währungen noch übermäßig aufwerten, was die Gewinne aus den Zinsdifferenzen sogar noch weiter erhöht – und weitere Spekulanten lockt.
Grund Drei: Die Finanzmärkte
Damit kommen wir zum letzten Puzzlestück. Finanzmärkte sind chronisch ineffizient. Das Preissignal an den Märkten ist durch Herdenverhalten gestört. Einfaches Beispiel: Steigt der Preis für Kartoffeln auf einem Markt, sinkt die Nachfrage, weil die Kunden sich nach Alternativen umsehen. Steigt hingegen ein Preis an Finanzmärkten, zieht das sogar neue Nachfrager an, weil steigende Preise als Spekulationsmöglichkeit begriffen werden. Eine steigende Aktie oder aufwertende Währung ist ein Kaufsignal an andere Anleger, ein fallender Kurs hingegen ein Verkaufssignal. Das bekräftigt das problematische Herdenverhalten. Wer es schafft, vor der Herde in die richtige Richtung zu laufen, gewinnt, wer hinter der Herde herläuft, verliert. Um ökonomische Fakten kümmert sich die Herde selten, siehe die aktuellen Krypto-Blasen.
Wann immer es also zu größeren Bewegungen kommt, übertreibt die Börse – ob nach oben oder nach unten. Gestern natürlich nach unten, weil zu viele Anleger panisch verkauft haben. Und weil automatische Stopp-Loss-Positionen getriggert wurden, bei denen Anleger einstellen, dass sie automatisch zum nächstmöglichen Kurs verkaufen, wenn der Wert einer Anlage eine gewisse Schwelle erreicht. Panische Verkäufe lösen dann automatische Verkäufe aus, was wiederum den Kurs noch schneller fallen lässt und weitere Panik auslöst, die dann von automatischen Verkäufen verstärkt wird – eine Teufelsspirale.
Wie ließe sich das vermeiden? Indem Spekulation an den Finanzmärkten eingedämmt wird und Zentralbanken die Wechselkurse nicht dem Markt überlassen, sondern miteinander kooperieren, um die Wechselkurse anhand festgelegter Regeln zu steuern. Zum Beispiel anhand von Zins- oder Inflationsunterschieden. Wie so ein System aussehen könnte, habe ich in meiner Master-Arbeit mal beschrieben (hier).
Immerhin scheint der nächste große Crash vorerst abgewendet, da sich die Börse heute wieder von der Überreaktion erholt haben. Große Auf und Abs sind aber immer riskant, erst recht, wenn die Anleger mit geliehenem Geld spekulieren.
Noch irrationaler als die Herde an den Finanzmärkten sind nur FDP-Abgeordnete. Max Mordhorst blamierte sich gestern auf X mit diesem Post: „Hätte Japan eine Schuldenbremse, wären die Börsen heute nicht so dramatisch gecrasht“. Beides hat genau nichts miteinander zu tun und beweist nur, dass Mordhorst von Finanzmärkten nicht besonders viel versteht. Wie war das noch? Die FDP will Wirtschaftspartei sein? Vonwegen!
Danke für den Artikel abseits der deutschen Wirtschaft, fand ich informativ. Was Herrn Mordhorst anbelangt, vielleicht sollte er mal die Ausgabe der ZDF Serie „Die Anstalt“ zur Schuldenbremse schauen und sich so etwas weiterbilden.
Hallo Maurice. Etwas OT an dieser Stelle, but anyway: Habe vorhin deinen Auftritt im Presseclub gesehen. Hat mir gefallen, allerdings finde ich, dass du hier und da noch öfter dazwischengehen könntest und solltest mit insgesamt mehr Redeanteil. Es gab längere Passagen zwischendrin, in denen die Gegenseite bei zu vielen Punkten unwidersprochen durchgekommen ist, das war recht schwer erträglich (z.b. ca zwischen 1/3 - 1/2 der Länge des Beitrags).
Es scheint als würdest du dich hier etwas als möglichst neutral faktisch orientierter Diskursteilnehmer immer etwas vorsichtig zurücknehmen, während die Gegenseite dann immer typisch journalistisch drauflos brabbelt (die untere "Erfahrungsperspektive" gegen den bösen Helikopter, omg).Vielleicht gelingt es dir, hier in Zukunft noch etwas mutiger reinzugrätschen.