Eine Charakterfrage, Herr Klingbeil?
SPD-Chef Klingbeil will die SPD wieder zur Arbeiterpartei machen. Mit Sparpolitik, Asylstopp und Bürgergeld-Abschaffung wird das nichts!
Ihre Diagnose stimmt, Herr Klingbeil. Der SPD ist „der Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen“. So haben Sie es dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gesagt. Nur: erstens ist das keine neue Erkenntnis, zweitens ist Ihre Therapie zum Scheitern verurteilt und drittens fehlt Ihnen die Glaubwürdigkeit.
Aber der Reihe nach. Spätestens mit der Bundestagswahl 2009 begannen die gravierenden Stimmenverluste der SPD – und die Imagekrise der einstigen Arbeiterpartei. Konkret: Nachdem die Agenda 2010 ihre fatale Wirkung entfaltete, das Arbeitsleben für Millionen Menschen prekärer machte und unzufriedene SPD-Mitglieder zur Linken wechselten. Das berüchtigte „Trauma Hartz IV“. Der Verrat an der Arbeiterklasse und den Idealen der Sozialdemokratie.
Nach jeder Wahlschlappe versprach die SPD, sich zu erneuern, das Trauma bewältigen und das soziale Image rehabilitieren zu wollen. Erst 2023 allerdings führte Arbeitsminister Hubertus Heil das Bürgergeld anstelle von Hartz IV ein – nur um es nach nicht mal einem Jahr de facto wieder zu kassieren. Wie ein Grashalm im Sturm knickte die SPD ein, als Konservative in Talkshows das Bürgergeld angriffen. Der Gipfel: Heil selbst verkündete exklusiv bei der BILD-Zeitung, sogenannten Totalverweigerern die Stütze komplett zu streichen. Weitere Verschärfungen folgten: weniger Karenzzeit beim Schonvermögen, einmonatige Meldepflicht, höhere Sanktionssätze, verschärfte Zumutbarkeitsregeln, Rückkehr zum Vermittlungsvorrang. Noch bevor das Bürgergeld vollständig zu wirken begann, machte die SPD selbst daraus Hartz V. Aus Traumabewältigung wurde ein Rückfall in alte, toxische Verhaltensmuster. Allein der Name blieb ein anderer.
Klassenkampf ist nicht Arbeiter gegen Arbeitslose
Nun zur Klingbeil-Therapie: Sie wollen dem Eindruck entgegentreten, dass sich die SPD nur um das Bürgergeld kümmere. Deshalb also musste Heil als Arbeitsminister seinen Hut nehmen und für Bärbel Bas weichen? Deshalb lässt man den Koalitionspartner in jedes Mikrofon schreien, das Bürgergeld werden „abgeschafft“? Deshalb hat man die Union in den Koalitionsvertrag diktieren lassen, was Bas als Arbeitsministerin umsetzen soll? Bald gibt es nämlich noch mehr Totalsanktionen, geflüchtete Ukrainer werden ausgeschlossen, Karenzzeiten für Schonvermögen vollständig abgeschafft und der Inflationsausgleich erst wieder mit einem Jahr Verspätung gezahlt – trotz der schmerzhaften Erfahrung von Millionen Bürgergeldbeziehern im Jahr 2022, mit läppischen drei Euro mehr Regelsatz einer Zehn-Prozent-Inflationsrate entgegnen zu müssen.
Herr Klingbeil, Sie haben sich von den Rechten und Neoliberalen einen Bären aufbinden lassen. Die schimpfen nämlich auf das Bürgergeld, um Arbeitslose gegen Geringverdiener auszuspielen. Oder auf Asylleistungen, um Arbeitslose und Geringverdiener gegen Geflüchtete auszuspielen. Um Arm gegen Schwach in einen Klassenkampf zu schicken, während hintenrum Politik für Arbeitgeber und Spitzenverdiener gemacht wird. Perfektioniert hat diese Strategie die AfD: Die suggeriert, mit Anti-Bürgergeld-Populismus auf der Seite der Geringverdiener zu stehen, hat aber ein Steuerprogramm, von dem fast nur Reiche profitieren.
Die Wahrheit ist: Arbeitslosigkeit zu drangsalieren, ist Politik gegen (!) die Interessen der Arbeiter. Denn je schmerzhafter die Arbeitslosigkeit, desto geringer die Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Das Bürgergeld also abzuschaffen und den Hartz-IV-Geist wiederzubeleben, schwächt auf jene, die im Job stehen und mehr verdienen. Klassenkampf ist nicht unten gegen unten, sondern unten geben oben. Nicht Arbeiter gegen Arbeitslose, sondern Arbeiter gegen Eigentümer!
Auch ist es falsch, wenn Sie sich im Finanzministerium als Sparkommissar verstehen, Herr Klingbeil. Ihr erster Appell, alle Ministerien zu Einsparungen zu zwingen, erinnert stark an den unrühmlichen FDP-Vorgänger Christian Lindner. Olaf Scholz hat den Fehler gemacht, ein roter Wolfgang Schäuble sein zu wollen. Sie sollten kein roter Christian Lindner werden. Gut ist Haushaltspolitik nicht dann, wenn man der Bevölkerung suggeriert, zu sparen wie eine schwäbische Hausfrau; sondern wenn dafür sorgt, dass die Wirtschaft brummt und die Bevölkerung finanziell besser zurechtkommt. Das schafft man aber nicht mit neoliberalen Spar-Appellen. Im Gegenteil: Die machen es dem Einzelnen schwerer, würgen die Konjunktur ab und vernichten am Ende Arbeitsplätze.
Gerade deshalb wünsche ich der SPD, auf dem Parteitag ein Korrektiv zu Klingbeil zu finden.
Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal
Seit 2017 führen Sie die SPD. Erst als Generalsekretär, dann als Parteichef. Das historisch schlechte Wahlergebnis war nicht nur ein Zeugnis für Olaf Scholz und Saskia Esken, sondern auch für Sie. Und trotzdem haben Sie das Vakuum nach der Wahlschlappe genutzt, um zur Macht zu greifen. Erst zum Fraktionsvorsitz, dann zum Finanzministerium und zur Vizekanzlerschaft. Dazu kommt: Sie haben mittlerweile nicht nur die Regierung mit Ihren Vertrauten besetzt, auch in die Parteispitze wollen Sie hieven, wer Ihnen passt.
Esken, Mützenich, Heil – alle verdrängt und kaltgestellt. Sie haben Tatsachen geschaffen, bevor der vorgezogene Parteitag die Wahlschlappe aufarbeiten konnte. Die Fehlerkultur von Lars Klingbeil also heißt: andere für Fehler über die Klippe schicken, um die eigene Macht auszubauen. Die Frage stellt sich: Passt so ein Führungsverständnis und Machtgeklüngel zum „Charakter einer Arbeiterpartei“?
Und: Wie authentisch passt dazu eigentlich die Klingbeil-Vita? Ein Politikwissenschaftler, der nie einen Job außerhalb der Politikblase hatte, vom Hörsaal gleich in den Plenarsaal gerutscht ist und mittlerweile allein über politische Posten zu einem Millionenvermögen gekommen sein dürfte, will sich mit rechtem Klassenkampf (Stichwort: unten gegen unten) zum Vertreter der Arbeiter stilisieren und die SPD wieder groß machen? Wirklich?
Andersherum wird ein Schuh draus. Es wäre in diesen Zeiten wichtiger denn je, die SPD tatsächlich wieder zur großen Partei der Arbeiter zu machen, um dem rechten Klassenkampf etwas entgegenzusetzen. Gerade deshalb wünsche ich der SPD, auf dem Parteitag ein Korrektiv zu Klingbeil zu finden. Dieser Kurs hat die Segel falsch gesetzt – und besteht die Charakterfrage nicht.
Super, auf den Punkt gebracht! Chapeau! Top. Genauso ist es.👍
Maurice, ich danke Dir ausdrücklich für diesen "offenen Brief" an Lars Klingbeil, mal Tacheles zu reden kann nicht schaden.
Ja, der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein schleichender Abstieg, es ist schade um diese diskussionsfreudige Partei.
Diese Partei und auch die Mitglieder sind es nicht gewohnt, dass "par ordre du Mufti" Entscheidungen gefällt werden.
Meine Hoffnung ist, dass es bald mal wieder aufwärts gehen wird.