13 Kommentare
Jan 14Gelikt von Maurice Höfgen

Ausgezeichneter Artikel. Aber wer liest ihn Lagarde, Schnabel & Co vor?

Expand full comment

Zinspolitik der EZB wird als direkter Inflationstreiber statistisch nicht erfasst - methodischer Fehler bei der Inflationsberechnung?

In zehn aufeinanderfolgenden Schritten hat die EZB den Leitzins seit Juli 2022 auf mittlerweile 4,50 % angehoben. Damit glaubt die EZB, auf die drastischen Preissteigerungen bei vielen Verbrauchsgütern durch die Gas- und Rohölknappheit in 2022 wegen der russischen Invasion in die Ukraine reagieren zu können. Die Überlegung dahinter ist, die Kosten für Kredite so zu erhöhen, dass Unternehmen sich bei Investitionen zurückhalten und Privatpersonen weniger Produkte und Dienstleistungen kaufen. Die dann sinkende Nachfrage soll den Preisdruck verringern und Preise stabil halten oder sogar reduzieren.

Im Sinne dieser Kausalkette scheinen die in ihrem Tempo historisch einmaligen Zinserhöhungen ihre beabsichtigte Wirkung zu entfalten - allerdings auch ausgerechnet bei solchen Investitionen, die für eine Senkung der Energiepreise dringend benötigt werden. So hat der schwedische Energieversorger Vattenfall sein 1,4-Gigawatt-Windpark-Projekt in der Nordsee u.a. wegen gestiegener Kapitalkosten gestoppt. Die Finanzierung solcher Vorhaben ist einfach zu teuer geworden. Gleiches gilt auch für viele anstehende energetische Sanierungsmaßnahmen im Gebäudesektor.

Die ökonomische Sinnhaftigkeit, auf eine durch einen historischen Angebotsschock induzierte Preissteigerung mit einem nachfragereduzierenden Zinsschock zu reagieren, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Ökonomen wie Maurice Höfgen weisen zu Recht auf die unzureichende Differenzierung zwischen Preisschock und wirklicher Inflation in der Diskussion hin. In seinem Buch „Teuer!“ pointiert er: „Hohe Preise bekämpft man pauschal mit hohen Zinsen, so das scheinbar allgemeingültige Prinzip, das nicht hinterfragt wird.“ Aktuell reibt sich die Politik erstaunt die Augen über konjunkturelle Einbrüche, obwohl genau das der in Kauf genommene Kollateralschaden der Zinspolitik ist - und dieses sogar mit Ansage.

Die steigenden Kreditzinsen führen aber auch zu einem massiven „Stottern“ des bislang zuverlässigen Wachstumsmotors Bauwirtschaft. Die Vergabe von neuen Immobilienkrediten ist mit Beginn der Zinserhöhungen regelrecht zusammengebrochen: „Der Feind der Immobilien ist der Zins“ titelte die FAZ am 31.08.23 und beschreibt damit die Sicht von Investoren auf diesen für unseren Wohlstand wichtigen Sektor. So sind die Zinsen für einen Hauskredit mit 10jähriger Zinsbindung seit Januar 2022 um über 460%(!) gestiegen. Damit liegt der Anstieg um ein Vielfaches höher als z.B. die Nettokaltmiete mit 3,5% oder bei anderen Preisen, die mit den Verbraucherpreisindizes (VPI) gemessen werden. Die Top 3 im gleichen Zeitraum sind übrigens: Zucker +72%, Pauschalreisen im Inland +68% und an der Spitze Kohlebriketts mit + 91%. Aber mit einem Anteil von nur 0,001% bei der Berechnung der Inflationsrate fallen letztere kaum ins Gewicht.

Kein Wunder also, dass sich die ca. 6,5 Mio. Haushalte mit Wohnungsbaukrediten große Sorgen über die dramatischen Steigerungen ihrer Finanzierungskosten machen. Bei vielen, vor allem jungen Familien, haben die niedrigen Kreditzinsen häufig die teuren Mieten abgelöst – ein im Entscheidungszeitpunkt vor einigen Jahren absolut rationales und tragfähiges Kalkül. Mittlerweile grassieren Existenzängste bei vielen Besitzern, wie in den Medien aktuell mehrfach berichtet wird. Denn anders als bei sonstigen Ausgabenpositionen, wie Energie oder Nahrung, kann man diese nur selten reduzieren (z.B. Oliven- statt Sonnenblumenöl).

Welchen Anteil und damit Bedeutung haben aber nun Mieten und Zinsen für die Finanzierung von selbst genutztem Wohneigentum bei der Berechnung der Inflationsrate?

Für die Mieten ist das eindeutig: Sie gehen mit ca. 18% als mit Abstand größte Position in das so genannte Wägungsschema für die Berechnung der Inflationsrate ein. Zinsen für Immobilienkredite und auch alle anderen Verbraucherkredite werden dagegen überhaupt nicht erfasst und finden damit keinerlei Berücksichtigung in der Inflationsrate!

Wenn also die Verzinsung der insgesamt ca. 1,5 Billionen € Immobilienkredite in Deutschland in naher Zukunft auch durch Anschlussfinanzierungen im Durchschnitt über 400% steigt, müsste die individuelle Inflationsrate eines typischen (Neu-)Immobilienbesitzers weit über der jetzigen Statistik liegen. Diesen Sachverhalt kennen übrigens die weitaus meisten Volkswirte nicht. Man muss sich auch erst die Mühe machen, in den 275 Einzelpositionen danach zu suchen. Genau genommen sind es sogar 687 Güter und Dienstleistungen auf der untersten Erfassungsebene, wie z.B. „Flugticket, Mittelamerika, Business“ mit einem Anteil von 0,2% der Inflationsrate.

Warum aber werden die Verbraucherzinsen nicht in den VPI und damit in die Inflationsrate aufgenommen? Die offizielle Begründung ist, dass Zinsen und Kreditkosten als Finanzierungskosten betrachtet und nicht als Konsumausgaben klassifiziert werden. Tatsächlich gibt es sogar ein EU-seitiges Verbot für ihre Aufnahme in den Index.

Aus meiner Sicht ist dieses Argument jedoch ökonomisch nicht haltbar: Sowohl Mietzinsen als auch Kreditzinsen sind Zahlungen für die zeitlich begrenzte Nutzung von Ressourcen. Bei Mietzinsen zahlt man für die Nutzung einer Immobilie, während man bei Kreditzinsen Ausgaben für die Nutzung von geliehenem Geld für Wohnzwecke tätigt. Mieten und Zinsen für Kredite können also durchaus äquivalent betrachtet werden. Für eine Berücksichtigung weiterer Verbraucherkredite, wie Raten- oder Überziehungskredite, kann analog argumentiert werden, da die Banken mit solchen Produkten das immaterielle Gut Zeitpräferenz eines jetzigen Konsums gegenüber der Zukunft befriedigen.

Aus diesen Gründen plädiere ich für eine Aufnahme der Preise / Zinssätze für Verbraucherkredite (Immobilienkredite, Ratenkredite, Dispositionskredite) in den Warenkorb und damit in die VPI-Berechnung, auch wenn dieses mit methodischen Herausforderungen verbunden ist: Bei Zinsen für das Neugeschäft ist das noch relativ einfach. Im Bestandsgeschäft mit erst in der Zukunft auslaufenden Zinsbindungen sowie Anschlussfinanzierungen müssen dagegen Gewichtungen nach ihrem Volumen vorgenommen werden. Das wird aber auch schon derzeit bei anderen Positionen mit länger laufenden Verträgen, wie etwa beim Erdgas, gemacht.

Das Ziel sollte sein, die durch die Zinspolitik der EZB direkt verursachten Preiserhöhungen auszuweisen und transparent zu machen, damit man die Konsequenzen sowie Kollateralschaden in Öffentlichkeit und Politik datengestützt diskutieren kann.

Der Autor hat Mitte der 90er Jahre mit dem Thema „Elastizitätsorientierte Zinsrisikosteuerung in Kreditinstituten“ promoviert und im Bankcontrolling jahrelang als Berater gearbeitet. Seit 2007 ist er als Professor für Business Intelligence und Analytics an der FH Münster tätig.

Expand full comment

Eigentlich ist diese Erkenntnis eine völlige Binsenweisheit, welche zwar den Kanon bestimmter Mainstream-Ökonomen verletzt, aber deshalb nicht weniger richtig ist.

Aber was kümmert einen wahren Denker und Analysten schon das Geschwätz von Fachleuten, deren scbärfste Waffen Scheinargumente und Taschenspielertricks sind?

Mensch Leute, wisst ihr überhaupt, vor welchen gewaltigen Herausfoerderungen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stehen werden, wenn die Dividenden des "Markt-Sozialismus" (Hayek) aufgebraucht sind?

Wer sich immer noch an die Finanzierungsebene klammert, anstatt die Ressourcen und deren Steuerung mit zu berücksichtigen, wird zwar nicht unbedingt selbst auf die Schnauze fallen. Andere aber schon, welche dies ausbaden müssen.

Und ob. das ohne gewaltige gesellschaftliche Ruptur vor sich geht, darf getrost angezweifelt werden.

Expand full comment
founding

Das Verhalten der EZB-Auguren kann man wahrscheinlich nur dann verstehen, wenn man die Frage stellt: „Wem nützt es?“!

Nach meinem Verständnis geht es um die Reduzierung der Lohnquote. Die getroffenen Maßnahmen sind in Verbindung mit den meist unfähigen Gewerkschaften als erfolgreich zu konstatieren!

Expand full comment