Kein Bürgergeld mehr für Ukraine-Flüchtlinge? Ein Faktencheck
CDU, FDP, AfD und auch Sahra Wagenknecht wollen Ukraine-Flüchtlingen das Bürgergeld streichen. Ein Faktencheck zeigt, wie absurd diese Forderung ist
Da ist er also: Der neue Tiefpunkt in der Debatte um den Sozialstaat. Nachdem monatelang auf Arbeitslose und Asylbewerber eingedroschen wurde, sind jetzt die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine an. 1,17 Millionen Ukrainer sind vor Putins Panzern nach Deutschland geflohen und erhalten hier Bürgergeld. Kurz vor der morgigen Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) fordern immer mehr Politiker, den Ukrainern das Bürgergeld zu streichen und ihnen stattdessen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu zahlen. Die AfD wollte das schon immer und hat damit auch EU-Wahlkampf gemacht. Neu ist, dass auch hochrangige CDU- und FDP-Politiker miteinstimmen. Und auch Sahra Wagenknecht!
Anti-Bürgergeld-Populismus, der nächste
„Neu ankommende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sollten künftig kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen“, sagte FDP-Generalsekretär Djir-Sarai. Wo sagte er das? Natürlich: Bei der BILD.
Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte gegenüber dem RND eine öffentliche Debatte über die Bürgergeld-Zahlungen für Ukrainer. Denn, „das ist auch der deutschen Bevölkerung nicht mehr lange vermittelbar“. Steffen Bilger aus der CSU-Bundestagsfraktion geht noch weiter und behauptet, ohne Bürgergeld für Ukrainer hätten „wir Milliarden weniger ausgeben müssen, wir hätten weniger Konkurrenz um Arzttermine, Betreuungsplätze und Wohnungen“.
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) formulierte es so: "Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren". Das Bürgergeld sei zum „Bremsschuh für die Arbeitsaufnahme“ geworden, ergänzte er außerdem. Dem schloss sich auch der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, an.
Auch Sahra Wagenknecht (BSW) hat schon häufiger gegen das Bürgergeld für Ukrainer geschossen. Letztes Jahr unterstellte sie Ukrainern Sozial-Abzocke, sprich: sich nur fürs Bürgergeld in Deutschland zu melden, aber weiter in der Ukraine zu leben. Natürlich ohne stichhaltige Beweise und Zahlen, sondern nur auf Basis von vermeintlichen Anekdoten aus ihrem Wahlkreis. Populismus in Friedrich-Merz-Manier (Stichwort: „Sozialtourismus“). Vor zwei Tagen mischte sie sich in die neue Debatte ein. „Es kann auch nicht sein, dass es für Flüchtlinge im Bürgergeld bessere Konditionen gibt als für Einheimische, etwa indem Vermögensprüfungen tabu sind“, so Wagenknecht.
Der arbeitslose Biodeutsche BSW-Wähler sitzt mit dem ukrainischen Kriegsflüchtling beim Bürgergeld in einem Boot. Beide aufeinanderzuhetzen, hilft nur der AfD.
Faktencheck: Bürgergeld als Privileg?
Nun zu den Fakten. Als nach Kriegsbeginn viele Ukrainer flüchteten, trafen die Länderchefs und die Bundesregierung auf der MPK vom 7. April 2022 die Entscheidung, Geflüchtete aus der Ukraine an Juni pauschal mit anerkannten Asylbewerbern gleichzustellen. Die Folgen: Ukraine-Flüchtlinge mussten keinen Asylantrag stellen, bekamen Zugang zur Grundsicherung (damals Hartz IV, heute Bürgergeld), zum Arbeitsmarkt und zu Sprachkursen.
Ein Akt der Solidarität und auch eine riesige Bürokratie-Entlastung, denn sonst hätte es mehr als eine Million Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegeben. Die sind aber ja schon mit den regulären 200.000 Asylanträgen pro Jahr überfordert, eine Million weitere Anträge hätte das BAMF und die Ausländerbehörden komplett lahmgelegt.
Und selbst wenn es 1,2 Millionen Ukraine-Anträge gegeben hätte, wären natürlich alle bewilligt worden, weil die Ukrainer vor einem Krieg fliehen, also einen subsidiären Schutzstatus zugesprochen bekommen hätten. Und wer „subsidiären Schutz“ gewährt bekommt, bekommt Bürgergeld. Egal, aus welchem Land und vor welchem Krieg man flieht. Heißt: Am Endergebnis hat die Abkürzung, Ukrainer sofort mit anerkannten Asylbewerbern gleichzustellen, im Prozess nichts verändert.
An den vermeintlichen Milliarden-Kosten, wie Bilger von der CSU behauptet, auch nicht. Allein während der Dauer des Asylverfahrens (in der überlasteten Behörde) hätten Ukrainer kein Bürgergeld bekommen, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sprich: etwas weniger Geld, etwas weniger Rechte. Überhaupt: Von Solidarität mit der Ukraine reden und dann Erbsen zählen bei den Geflüchteten? Passt nicht zusammen!
Entlarvend ist vor allem das: Als die Ampel aus dem MPK-Beschluss im Bundestag ein Gesetz gemacht hat, war die Union ausdrücklich dafür. Die CDU-Abgeordnete Ottilie Klein sagte in der Debatte vom 12. Mai 2022: „Als CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßen wir ausdrücklich den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz. Wir begrüßen, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch erhalten.“ Im Bundesrat haben die Unions-Länder am 20. Mai 2022 sogar alle zugestimmt. Übrigens genauso wie bei der generellen Einführung des Bürgergeldes. Scheinbar alles schon wieder vergessen? Oder doch der großen Heuchelei überführt?
Faktencheck: Bürgergeld als „Bremsschuh am Arbeitsmarkt“?
Und dann ist da noch die Unterstellung, das Bürgergeld halte Ukrainer vom Arbeiten ab. Dahinter steckt eine so naive wie grässliche Arbeitsmarkttheorie, nämlich: Arbeitslosigkeit muss so schmerzhaft sein, dass Arbeitslose jeden noch so beschissenen Job annehmen.
Dass nur ein Viertel der erwerbsfähigen Kriegsflüchtlinge arbeiten, liegt an vielen Gründen, aber nicht daran, dass die Ukrainer in der Hängematte liegen, während Milch und Honig fließen. Zum einen ist da die Sprachbarriere. Zum anderen ist die deutsche Wirtschaft in der Krise und es gibt ohnehin schon mehr Arbeitslose als offene Stellen. Außerdem sind von den 1,2 Millionen Ukrainern ganze 350.000 Kinder, die betreut werden wollen. Drei von vier Erwachsenen sind ohne Partner nach Deutschland gekommen, jeder zweite zudem mit Kind. Hunderttausende sind also zwar formal erwerbsfähig, aber mit Erziehung, Sprachkursen und anderen Alltagsthemen voll ausgelastet. Das wird immer unterschlagen.
Eigentlich sollte es auch für jeden nachvollziehbar sein, dass Kriegsflüchtlinge, die Partner, Familie, Kollegen, Beruf und ihr Zuhause zurückgelassen haben, nicht sofort darauf aus sind, gegen alle Widerstände einen neuen Job zu finden. Die bittere Realität ist: Wer Ukrainern die soziale Absicherung kürzen will, pfeift auf deren Schicksalsschlag und wirft sie mit ökonomischer Erpressung dem deutschen Niedriglohnsektor zum Fraß vor.
Dazu kommt, dass Arbeitsvermittlung aus dem Bürgergeld viel einfacher ist als aus dem Asylsystem. Weil der Zugang zu Sprachkursen und Weiterbildungen einfacher ist und weil man von den Jobcentern betreut und vermittelt wird. Auch Markus Lewe, Präsident des Deutschen Städtetags, kritisiert die Forderungen von Union und FDP deshalb völlig zurecht: "Wenn Ukrainerinnen und Ukrainer stattdessen ins Asylsystem wechseln müssten, würde der Zugang zu Sprachkursen, Arbeitsvermittlung oder Qualifizierung deutlich erschwert. Damit würde es viel schwieriger für sie, eine Arbeit zu finden".
Auch ist der Vorwurf von Wagenknecht unsinnig, andere Bürgergeldempfänger wären benachteiligt, weil bei Ukrainern keine Vermögensprüfung durchgeführt wird. Für alle Bürgergeldbezieher gibt es in den ersten sechs Monaten keine Prüfung, egal ob deutsch, syrisch oder ukrainisch. Einzige Ausnahme: Wenn die Bezieher angeben, über erhebliches Vermögen zu verfügen. Millionäre gibt es im Bürgergeldbezug in der Regel aber ohnehin kaum. Selbstbewohnte Eigentumshäuser und -wohnungen sind außerdem bis zu gewissen Grenzen von der Prüfung ausgenommen. Hinzu kommt das praktische Problem für Behörden, Vermögenswerte in der Ukraine zu ermitteln und zu bewerten.
Wagenknecht ignoriert all das und spielt Ukrainer gegen andere Bürgergeldempfänger aus. Die Wahrheit ist: Kein Biodeutscher hätte aber mehr Bürgergeld, wenn Ukrainern nach aufwendiger Vermögensprüfung Gelder gekürzt würden oder individuelle Asylverfahren bekommen hätten.
Stattdessen leiden alle Bürgergeldempfänger unter kleingerechneten Sätzen oder den jüngsten Verschärfungen in Sachen Sanktionen. Der arbeitslose Biodeutsche BSW-Wähler sitzt mit dem ukrainischen Kriegsflüchtling beim Bürgergeld in einem Boot. Beide aufeinanderzuhetzen, hilft nur der AfD. So wie überhaupt die ganze Debatte gerade. Denn die AfD hat die dumme und menschenfeindliche Forderung mal wieder als erstes in die Welt posaunt – und suhlt sich jetzt im Erfolg, dass sie die Konservativen und Liberalen vor sich hergetrieben hat.
Wie gesagt: ein neuer Tiefpunkt, fernab von der Faktenlage.
Ist das denn überhaupt noch sinnvoll, dagegen überhaupt noch anzuargumentieren? Es geht doch hier, wie bei vielen Themen der letzten Tage, nur noch darum, den Grausamkeits-Wettbewerb mit der AfD zu gewinnen. Mir gehen da rhetorisch langsam einfach die Ideen aus, aber auf einer Faktenebene ist hier nichts zu gewinnen, das registriert doch überhaupt nicht mehr.
Vielleicht ein EU-weites Verbot für Politiker, nicht-quantitative Aussagen zu machen: Jede politische Forderung muss mit einem Preisschild versehen sein - was bringt das, was kostet das, über wieviele Artzttermine die Ukrainer einem Bio-Deutschen weggenommen haben, reden wir hier? Und wieviele zusätzliche Wohnungen genau werden durch einen Flieger nach Afghanistan geschaffen, in dem vor den Taliban Geflüchtete sitzen, die dann in Kabul gleich hingerichtet werden? Von ethischen oder auch wenigstens rechtlichen Überlegungen lässt sich mittlerweile flächendeckend von Afd bis CSU niemand mehr zurückhalten: Wenn jeder Politiker eine Zahl auf den Tisch legen müsste, wäre wenigstens mal Ruhe für eine sehr lange Weile...
Die mittlerweile abstrusen Vorstellungen seitens der Konservativen lassen mich mittlerweile echt erschaudern. Jede Woche ein neuer Tiefpunkt....
Danke für die Analyse!