Nicht die Richtigen?
Gewerkschaftsökonomen und Progressive sind gegen die Senkung der Mehrwertsteuer. Das ist ökonomisch und politisch fatal.
Eigentlich sollte es ein Alarmsignal sein, wenn sich progressive und wirtschaftsliberale Ökonomen in Steuerfragen einig sind. Genau das ist der Fall in der Debatte um die Mehrwertsteuer. Katja Rietzler vom IMK und Clemens Fuest vom Ifo-Institut sind beide gegen eine Absenkung. Erst wurde lange über die Senkung der Mehrwertsteuer auf Benzin, Strom und Gas geredet, seit neuestem geht es auch um die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel. Die EU hat die sogenannte - Achtung: schreckliches Wort - Mehrwertsteuersystemrichtlinie angepasst. Sie regelt die Mehrwertsteuersätze der EU-Länder und erlaubt neuerdings einen Nullsatz auf einige Grundnahrungsmittel. Da sowohl Energie als auch Lebensmittel in den letzten Monaten deutlich teurer wurden, wäre eine Senkung der Mehrwertsteuer doch eine gute Idee, oder? Und überhaupt - auch unabhängig von den jüngsten Preisanstiegen - ist die Mehrwertsteuer aus linker Sicht doch eine schlechte Steuer, oder?
Ich finde ja, allerdings tun sich Gewerkschaftsökonomen und linke Politiker mit der Mehrwertsteuer seit neuestem sehr schwer. Eine Senkung wird als Gießkanne bezeichnet, die nicht “zielgenau” denen helfe, die Entlastungen am meisten bräuchten. Exemplarisch dafür ist ein Satz vom NRW-Spitzenkandidat der SPD, Thomas Kutschaty. Vor einigen Wochen sagte er in der Sendung Hart aber Fair zur Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie folgendes:
„Die Lösung ist zwar einfach umzusetzen, die Umsatzsteuersenkung trifft aber nicht die Richtigen.“
Eine Umsatzsteuersenkung trifft “nicht die Richtigen”. Als ich das gehört habe, hätte ich am liebsten abgeschaltet. Hohe Preise treffen kleine Einkommen bis weit in die Mittelschicht, aber eine Senkung der Preise träfe “nicht die Richtigen”. Wer stabile linke Mehrheiten will, kann doch nicht die Mittelschicht so hängen lassen, war mein erster Gedanke. Was Kutschaty damit meinte: Der vermögende Porsche-Fahrer profitiert auch, wenn Sprit und Strom günstiger werden, obwohl er gar keine Entlastung nötig hat. Und weil er vermutlich sogar einen höheren Energieverbrauch hat als die Teilzeit-Kassiererin mit schlechtem Lohn, profitiert er in Euro gerechnet sogar mehr. Das sei nicht gerecht. In der Haltung ist Kutschaty gewiss nicht alleine. Im Gegenteil: Er weiß viele andere Progressive an seiner Seite: von Ulrich Schneider über Grünen- und Linken-Politiker bis hin zur schon genannten, gewerkschaftsnahen Ökonomin Katja Rietzler vom IMK. Es reicht aber eine Grafik, um zu zeigen, dass alle falsch liegen, wenn sie auf die absolute Entlastung schauen und nicht auf die Entlastung im Verhältnis zum Einkommen.
Sie trifft die Richtigen!
Die Grafik unterhalb zeigt die Steuerbelastung nach Einkommen durch die verschiedenen Steuern. In blau abgebildet die Mehrwertsteuer. Auf den ersten Blick erkennt man: Keine Steuer belastet die unteren 50 Prozent der Einkommensverteilung mehr als die Mehrwertsteuer. Je kleiner das Einkommen, desto größer die Belastung. Schaut man auf das rechte Ende der Einkommensverteilung, wird der blaue Bereich ganz klein. Heißt: Je höher das Einkommen, desto kleiner die Belastung durch die Mehrwertsteuer. Für den vermögenden Porsche-Fahrer ist sie Peanuts, für die Kassiererin in Teilzeit ist sie ein schmerzhafter Lohnfresser. Am härtesten trifft sie Arbeitslose und Armutsrentner.
Die Grafik zeigt auch: Bei keiner anderen Steuer kann man die untere Bevölkerungsmehrheit besser entlasten als bei der Mehrwertsteuer. Eine Mehrwertsteuersenkung wirkt von ganz unten bis weit in die Mittelschicht. Wenn das nicht “die Richtigen” sind, dann weiß ich auch nicht.
Politisch ist das ein fatales Statement, dass die Steuersenkung nicht “die Richtigen” träfen. Die überzeugendsten linken Positionen sind doch die, die universalistisch sind und den Großteil der Bevölkerung besserstellen. Genau das macht eine niedrige Mehrwertsteuer. Eigentlich ist es sogar linke Tradition GEGEN die Mehrwertsteuer zu sein, weil sie eben eine ungerechte Steuer ist. Heute scheint das Gegenteil zu gelten. Leider.
Die ganze Absurdität wird deutlich, wenn man die Argumentation mal weiterdenkt. Wenn Kutschaty, Rietzler und Co. eine Senkung der Mehrwertsteuer ungerecht finden, dann müssen sie ja umgekehrt eine Erhöhung Mehrwertsteuer als geeignetes Instrument zur Umverteilung sehen, weil der vermögende Porsche-Fahrer dann in Euro gerechnet mehr zahlen müsste als die Teilzeit-Kassiererin, die eben weniger konsumiert. Hier lohnt ein erneuter Blick auf die Grafik, um zu erkennen, wie absurd das ist. Wenn man den Mehrwertsteuersatz erhöht, damit der blaue Bereich am rechten Ende der Einkommensverteilung (bei den Spitzenverdienern) größer wird, dann explodiert er gleichzeitig auf der linken Seite (bei den Geringverdienern). Das Ergebnis wäre katastrophal, ein Verarmungsprogramm! Ich wette, dass Kutschaty und Rietzler, wenn sie mit dieser Logik konfrontiert würden, eine Erhöhung ablehnen würden. Und ich unterstelle erst recht keine schlechten Motive. Aber die Umkehrung der Argumentation zeigt, wie falsch es ist, gegen die Absenkung der Steuer zu sein, weil sie nicht “die Richtigen” träfe.
Die Einsicht muss sein: Mit der Mehrwertsteuer kann man NICHT umverteilen. Dafür gibt es andere Steuern. Etwa die progressive Einkommensteuer, die Erbschaftsteuer oder die Vermögensteuer. Damit kann man für Gerechtigkeit sorgen! Nicht aber, indem man mit der Mehrwertsteuer Konsum pauschal teurer macht. Das ist der falsche Hebel.
Andersherum kann man aber kleine Einkommen entlasten, indem man mit der Mehrwertsteuersenkung Konsum pauschal günstiger macht. Und genau darum sollte es Progressiven doch gerade gehen, oder?
Ich nehme den Artikel als Anlass, um hier bald eine neue Artikelreihe zum Thema Steuern zu starten. Das Thema ist von vielen Mythen belastet und gleichzeitig ein riesiger Hebel für überzeugende, populäre Forderungen. Stay tuned!
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Sehr guter Beitrag zum Thema Steuern und wer sie zu zahlen hat.
Wenn man dann noch berücksichtigt, das Unternehmen alle von ihnen abzuführenden Steuern und Abgaben (einschl. Soziales) in den Preisen einkalkulieren, wird die Frage mit welcher Steuer man etwas umverteilen kann, sehr bedeutungsvoll.
Bei der Einkommenssteuer sollte der Einstieg beim Einkommen deutlich höher angesetzt werden und dann deutlich stärker ansteigen als bisher. Mit Bestandssteuern wie auf Vermögen und Erbschaften kann sicherlich eine reale Umverteilung (einen vernünftigen Freibetrag vorausgesetzt) betrieben werden.
Entscheidungen in dieser Richtung sind aber bei dem heutigen Personal im Bundestag und Bundesrat nicht zu erwarten.
Bin sehr gespannt auf deine neue Artikelreihe!
Danke, die Argumentationslogik einmal umzudrehen, hat mich baff gemacht. Haha, ich musste lachen, weil du hast Recht.