Merz‘ toxisches Geschäft mit der Angst
Friedrich Merz schürt Ängste, um Stimmen zu fangen. Ein gefährliche Strategie, die der Union schadet und die AfD stärkt
Spätestens seit der Gewalttat von Aschaffenburg wird der Wahlkampf von einer altbekannten, aber brandgefährlichen Taktik dominiert: dem Geschäft mit der Angst. Rechte Parteien haben das weltweit perfektioniert – Meloni in Italien, Trump in den USA, Kickl in Österreich und die AfD in Deutschland, die dadurch in bedenkliche Umfragehöhen gestiegen ist. Nun will CDU-Chef Friedrich Merz dieses Geschäft mit der Angst für sich beanspruchen. Sein Rezept: Ängste schüren, Probleme dramatisieren, Wähler emotionalisieren, Symbolpolitik betreiben, Kompromisse ablehnen und Stärke demonstrieren – allerdings nicht mit dem Ziel, Lösungen umzusetzen, sondern um Stimmen zu gewinnen
Ein eindrückliches Beispiel lieferte er vergangene Woche im Bundestag. „Was muss eigentlich noch alles geschehen?“, fragte Merz die Abgeordneten mit theatralischer Gestik, um für seine „Grenzen-dicht“-Asylpolitik zu werben. Und setzte noch einen drauf: „Wie viele Kinder müssen noch Opfer solcher Gewalttaten werden, bevor Sie auch der Meinung sind, dass es sich hier um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt?“.
Das Geschäft mit der Angst spaltet die Gesellschaft, verprellt Koalitionspartner, beschädigt die Demokratie und stärkt die AfD.
Ohnmacht, Wut, Kontrollverlust
Merz‘ Rhetorik erzeugt nicht nur Angst, sondern vermittelt den Wählern bewusst ein Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust. Und zwar bewusst. Das ist die Strategie. Denn wer Angst hat und sich ohnmächtig fühlt, ist leichter manipulierbar, sehnt sich nach einfachen Lösungen und nach kompromisslosen Politikern, die für knallharte Symbolpolitik stehen.
Bitter: In der ohnehin mürben und krisengebeutelten Gesellschaft verfängt vor allem die Angst davor, eine Horde Fremder stünde mit gewalttätigen Absichten vor der eigenen Tür. Der seit 1992 erhobene Angstindex der R+V-Versicherung zeigt, dass die Angst der Deutschen aktuell sogar höher ist als während der Pandemie. Neben der Sorge um finanzielle Sicherheit zählen die Überforderung durch Migration und die damit verbundenen Spannungen zu den größten Ängsten.
Und weil Ängste Fakten schlagen, leitet Merz aus Aschaffenburg eine Bedrohungslage ab, die die Statistik selbst nicht hergibt. Natürlich war die Tat furchtbar – wie auch die Angriffe in Mannheim, Solingen oder Magdeburg. Sie allein gefährdet aber nicht die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“. Schon gar nicht rechtfertigen sie den von Merz implizierten nationalen Notstand, der nach EU-Recht notwendig wäre, um deutsche Grenzen zu schließen und Geflüchtete zurückzuweisen. Eine solche Notlage kann allein der Europäische Gerichtshof feststellen – und der orientiert sich an Fakten, nicht an Einzelfällen und auch nicht an markigen Wahlkampfsprüchen.
Die Faktenlage
Und die Fakten sprechen gegen Merz. 2024 wurden bereits ein Drittel weniger Asylanträge gestellt als im Vorjahr, während die Abschiebungen um 20 Prozent gestiegen sind. Zudem belegen Kriminalitätsstatistiken – anders als seine Rhetorik suggeriert – keine explosionsartige Zunahme von Gewalttaten durch Migranten. Seit 2005 ist die Zahl ausländischer Tatverdächtigen[1] im Verhältnis zur Anzahl ausländischer Einwohner sogar gesunken. Und überhaupt gibt es trotz wachsender Gesamtbevölkerung heute weniger Fälle schwerer Kriminalität, insbesondere von Mord und Totschlag, als in der Vergangenheit. Zum Vergleich: 1993 gab es bei kleinerer Bevölkerung noch 1.468 erfasste Fälle von Mord und Totschlag, 2023 waren es 659.
Dass es Merz in Wahrheit nicht um Sicherheit geht, sondern um politisches Kapital, zeigt sich auch daran, welche Gewalt er skandalisiert – und welche nicht. Beispiel: Femizide. 2023 wurden in Deutschland 360 Frauen aufgrund ihres Geschlechts ermordet, fast die Hälfte davon durch ihren eigenen Partner – also statistisch gesehen beinahe jeden Tag ein Fall. Merz verliert darüber jedoch kein Wort und skandalisiert keinen Einzelfall. Wo bleibt sein Fünf-Punkte-Plan dazu?
Ein weiteres Beispiel: Häusliche Gewalt gegen Frauen. 180.715 Fälle sind polizeilich erfasst für das Jahr 2023 – 13 Prozent mehr als 2019. Das sind fast 500 Fälle pro Tag. In 71 Prozent der Fälle schwerer Körperverletzung, Mord, Totschlag und Vergewaltigung sind die Täter Deutsche; bei sexueller Belästigung zu 85 Prozent und bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sogar zu 92 Prozent. Doch anstatt faktisch viel größere Bedrohungen in den Fokus zu rücken, betreibt Merz Panikmache gegen Geflüchtete.
Verhältnismäßigkeit statt Alarmismus und Angst
Statt einer Rhetorik der Angst braucht es jetzt dringend eine der Verhältnismäßigkeit. Und umsetzbare Lösungen statt kompromisslosem Alarmismus. Denn: Angst und Alarmismus stärken die AfD, normalisieren deren radikale Sprache und legitimieren deren fremdenfeindlichen, geschichtsvergessenen Forderungen.
Weil Merz die Spirale des Alarmismus überdreht, weckt er praktisch unerfüllbare Erwartungen.
Erst recht, wenn bald die markigen Wahlkampfparolen von Merz auf die Realität des Regierens stoßen. Dann werden nämlich die Versprechen als das entlarvt, was sie sind: faule Versprechen. Sie werden an der praktischen wie rechtlichen Umsetzbarkeit scheitern. Weder hat die Bundespolizei genug Personal und Ausrüstung, um alle Grenzen zu kontrollieren; noch können abgelehnte Asylbewerber ohne Zustimmung der Herkunftsländer einfach dorthin zurückgeflogen werden; noch wird der Europäische Gerichtshof Deutschland einen asylpolitischen Notstand attestieren; geschweige denn werden die anderen EU-Ländern akzeptieren, dass Deutschland im Alleingang die Grenzen dicht macht, Asylbewerber zurückweist und das Dublin-Abkommen faktisch aufkündigt.
Weil Merz die Spirale des Alarmismus überdreht, weckt er praktisch unerfüllbare Erwartungen. An denen aber wird die mürbe, von Merz selbst aufgehetzte Bevölkerung ihn messen. Damit schafft er sich gleich drei Probleme auf einmal. Erstens wird er seine Wähler enttäuschen, zweitens seine Verhandlungsposition für ohnehin schwierige Koalitionsgespräche verschlechtern und drittens der AfD es besonders leicht machen, ihn aus der Opposition unter Druck setzen. Mit Blick auf die Bundestagswahl 2029 sind das die denkbar schlechtesten Voraussetzungen.
Das Geschäft mit der Angst spaltet die Gesellschaft, verprellt Koalitionspartner, beschädigt die Demokratie und stärkt die AfD. Und das in einer Welt, die mit Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, dem politischen Kurswechsel in den USA und der fortschreitendenden Klimakrise ohnehin an einem gefährlichen Punkt steht.
Doch es gibt auch einen Hoffnungsschimmer. Die Wähler strafen Merz und die Union für ihren Tabubruch ab. Laut der neuesten Forsa-Umfrage kommt die Union nur noch auf 28 Prozent – ein Minus von zwei Prozentpunkten und der niedrigste Wert der Union seit Oktober 2023. Währenddessen legen Grüne und Linke jeweils um einen Prozentpunkt zu. Immerhin!
[1] Wichtig: Es geht um Tatverdächtige, nicht um rechtskräftig verurteilte Täter. Gina Rosa Wollinger, Professorin für Kriminologie an der Hochschule für Polizei NRW, gibt dazu zu bedenken, dass Ausländer in der Statistik der Tatverdächtigen überschätzt werden. Zum einen, weil Ausländer ohne Wohnsitz in Deutschland in die Statistik mit eingehen, zum anderen, weil Ausländer statistisch häufiger kontrolliert und eher angezeigt werden. Siehe dazu auch dieses Interview.
Ich bin so froh, auf deinen Newsletter und generell auf deinen YouTube-Kanal gestoßen zu sein. Du bereicherst die Welt, deine Beiträge sind unglaublich wertvoll. Danke, dass du uns an deinem Wissen und deinen soliden Einschätzungen teilhaben lässt! Da bezahle ich doch gerne einen kleinen Beitrag dafür. :-)
In vergleichender Weise übrigens auch bei Flassbeck: https://www.relevante-oekonomik.com/2025/02/03/die-migration-und-die-innereuropaeischen-grenzen/