Herr Merz, Sie wissen selbst, diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Sondern: Verzweiflung. Das hat spätestens das Desaster zur Kanzlerwahl gezeigt. Nicht nur, dass Sie und ihr Vizekanzler Klingbeil einen Denkzettel verpasst bekommen haben, Union und SPD haben sich auch gleich noch gegenseitig die Schuld zu geschoben. Das hat nicht einmal die Zank-Ampel hinbekommen.
Man fragt sich: Wenn die hauchdünne Mehrheit im Bundestag nicht einmal bei der Kanzlerwahl hält, wie soll das dann bei Asylverschärfungen und anderen heiklen Gesetzen erst klappen? Und: Wenn einem nicht einmal die Berliner Politikblase vertraut, wie will man dann das verloren gegangene Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen? Erst recht, wenn man dabei auf die Umfragewerte der AfD, die miesen Konjunkturprognosen und die Ankündigungen von Donald Trump blickt wie das Kaninchen auf die Schlange!
In ihrem 100-Tage-Programm fehlt ein echtes Konjunkturpaket. Stattdessen gibt es Neoliberalismus aus den 90ern, wenn auch in geringerer Dosierung. Statt echten Entlastungen gibt es Bürokratieabbau, statt Integration gibt es Abschottung, statt sozialem Wohnungsbau gibt es abgesenkte Baustandards, statt Armutsbekämpfung gibt es Totalsanktionen beim Bürgergeld, statt Klimaschutz gibt es Klimaignoranz. Mit dem Rückwärtsgang in die Zukunft, das kann nicht gelingen!
Ausgerechnet die Maßnahmen, die wirklich etwas verändern würden – mehr Elterngeld, mehr Bafög, weniger Einkommensteuer, höherer Mindestlohn –, sind im Koalitionsvertrag schwammig formuliert und stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Hier sind Streit und faule Kompromisse vorprogrammiert.
Dazu bauen Sie eine Regierung fast ohne politische Schwergewichte und Regierungserfahrung. Einzig Pistorius und Dobrindt haben schon einmal Regierungsämter bekleidet. Sie selbst, ihr Vize Klingbeil auch die übrigen Minister aber nicht. Selten haben die Spitzen einer Koalition so wenig bundespolitische Erfahrung um sich versammelt.
Umso riskanter ist es auch, politisch unerfahrene Manager und Unternehmer in Ministerposten zu hieven. Dahinter steckt ein großes Missverständnis: Wer ein Unternehmen führen kann, kann noch lange keine Politik für die ganze Wirtschaft machen. Ein einzelnes Unternehmen funktioniert nämlich anders als eine ganze Wirtschaft. Kurz: BWL ist nicht VWL!
2018 haben Sie angekündigt, die AfD zu halbieren. Mittlerweile hat sie sich verdoppelt. Sie haben es in der Hand, die AfD politisch zu bekämpfen. Und vielleicht nur noch Sie. Denn wenn Sie die Missstände nicht schnell beheben, die der AfD Protestwähler zutreibt, könnte die AfD bei der nächsten Bundestagswahl stärkste Kraft werden – und ihr ausgemachter Nachfolger, Jens Spahn, aus Gier nach Macht zusammen mit der AfD koalieren.
Herr Merz, gerade weil ich Ihnen nicht zutraue, die AfD politisch zu bekämpfen, sollten Sie den juristischen Weg gehen.
Um es klar zu sagen: Die Vorzeichen stehen denkbar schlecht. Weil Ihr Koalitionsvertrag zu wenig im Angebot hat, um Protestwähler von der AfD wegzuholen. Weil Sie ein klischeehaftes Feindbild für Menschen mit Abstiegsängsten, Frust und Existenznöten sind. Sie, der Black-Rock-Millionär, der sich trotz Privatflugzeug zur Mittelschicht heuchlerisch und anbiedernd zur „oberen Mittelschicht“ zählt. Weil Sie Jens Spahn mit dem Fraktionsvorsitz auf das Sprungbrett zum nächsten Kanzlerkandidaten gestellt haben. Ausgerechnet den Parteigenossen, für den die eigene Karriere über allem steht und dessen Agenda ist, die CDU weiter nach rechts zu rücken. Und weil Sie sich nicht trauen, das Verbotsverfahren gegen die AfD anzustreben. Obwohl der Verfassungsschutz in mehr als 1.000 Seiten belegt, dass die AfD gesichert rechtsextrem ist, die Demokratie zersetzen will und nicht auf dem Boden unserer Verfassung steht. Herr Merz, gerade weil ich Ihnen nicht zutraue, die AfD politisch zu bekämpfen, sollten Sie den juristischen Weg gehen.
Ich würde mich freuen, in vier Jahren zugeben zu können, mich in diesem Urteil getäuscht zu haben. Allein mir fehlt der Glaube. Aber trotz aller Skepsis: Glückwunsch zur Kanzlerwahl und alles Gute!
Wie immer ein guter Kommentar, der den Finger in die Wunde legt. 👍 Der Pessimismus ist sehr berechtigt. Man hat den Eindruck, die Koalitionäre haben die tieferen Ursachen des Rechtsrucks gar nicht verstanden (Abstiegsängste, Verunsicherung, soziale Exlusion). Und auch die Klimakatastrophe geht durch Ignorieren ja nicht einfach weg. Keine guten Aussichten...
Danke für diesen "offenen Brief" an FM.
Dieser Brief fasst in aller Offenheit zusammen, was der politischen Kaste hierzulande fehlt. Prioritäten setzen muss auch gelernt werden, dem Volk nach dem Mund zu reden und die Politik darauf auszurichten, was eine lautstarke, radikale Minderheit fordert, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
"Vox populi, vox Rindvieh", das hat mal ein bayerischer Politiker gesagt, das war aber auch das einzig Richtige, was jemals seinem Maul entfleucht ist.