Haben Sie Ihre Macht vergessen, Herr Scholz?
Scholz stellt sich im Haushaltsstreit hinter Lindner und fordert 15-Euro-Mindestlohn. Das ist wohlfeil!
Es kann nur einen geben, Herr Scholz. Und Sie sind es. Bundeskanzler. Nur: Haben Sie Ihre Macht vergessen? Sie fordern 15-Euro-Mindestlohn, als wären Sie ein Linker in der Opposition. Dabei sind Sie weder links noch Opposition. Sie regieren! Sie haben eine Mehrheit, nutzen Sie das doch und legen einen Gesetzentwurf auf den Kabinettstisch. Das Gesetz zu schreiben, sollte keine 20 Minuten dauern. Einfach aus dem Gesetz vom Oktober 2022 kopieren, da haben Sie den Mindestlohn doch schon einmal politisch angehoben.
Ansonsten ist die Forderung hohles Wahlkampfgetöse, zumal drei Wochen vor der EU-Wahl. Und, wohlgemerkt, zwei Wochen, nachdem Ihre Partei im Bundestag gegen einen Antrag auf 14-Euro-Mindestlohn gestimmt hat.
Sie sind ein Aktenfresser, Sie kalkulieren, jedes Wort ist dreimal bedacht – mindestens. Deshalb weiß jeder: Die 15 Euro sind Wahlkampftaktik, nicht ernst gemeint, leider.
Sie meckern auch über die Mindestlohnkommission. Zurecht. Die Kommission hat Sie letzten Sommer düpiert, als sie den neuen Mindestlohn nicht von den geltenden 12 Euro aus berechnete, sondern von den vorherigen 10,45 Euro. Sonst wäre der Mindestlohn auch nicht nur mickrige 41 Cent gestiegen. Die Kommission hat die gesetzliche Erhöhung einfach ignoriert, als hätten Sie Ihr Respekt-Versprechen aus dem letzten Bundestagswahlkampf gar nicht umgesetzt. Die Arbeitgeberseite hat sich in der Kommission durchgesetzt. „Tabubruch“ nennen Sie das. Ich würde sagen: Die Kommission hat Ihnen damit den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.
Aber, Herr Scholz, Sie sind doch Kanzler. Sie müssen nicht beleidigt meckern, Sie können die Regeln der Kommission ändern. Zum Beispiel vorschreiben, dass der Mindestlohn immer mindestens der Armutsgrenze entsprechen soll (60 Prozent des Medianlohns). Das erfordert die neue EU-Richtlinie ohnehin ab November 2024. Oder die Kommission gleich ganz abschaffen. Dann wird der Mindestlohn politisch festgelegt. Warum nicht? Ihre Parteichefin Nahles, heute Chefin der Bundesarbeitsagentur, damals Arbeitsministerin, hat die Kommission gegründet; Sie können den Fehler beheben.
Oder fürchten Sie, der Finanzminister aus Ihrem Kabinett würde das nicht mittragen? Natürlich müssen Sie verhandeln. Sie sind zwar Kanzler, aber nicht König. Ein Kanzler führt seine Koalition aber und verzwergt sich nicht zum Pressesprecher der Minister. Da erinnere ich mich an einen passenden Satz von Ihnen: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“. Gilt das noch?
Christian Lindner hat einen Unternehmergeist. Heißt: Lindner lässt alles mit sich verhandeln, allein das Angebot muss stimmen. Er ist ein guter Verhandler, bei ihm gibt es nichts umsonst. Und, ja: Er ist ein Rhetorikriese (anders als Sie), aber derzeit eben auch ein Umfragezwerg. Nutzen Sie das. Machen Sie ihm ein Angebot. Aktienrente verdoppeln, dafür den Mindestlohn erhöhen. Das spart auch Gelder im Haushalt. Denn die Aktienrente läuft als finanzielle Transaktion an der Schuldenbremse vorbei; und je höher der Mindestlohn, desto mehr Einnahmen für die Sozialversicherungen, desto mehr Steuereinnahmen für den Staat und desto weniger Menschen bekommen als Aufstocker Bürgergeld. Win-Win!
Apropos Haushalt. Sie stellen sich hinter Lindner und dessen Sparvorgaben. Das sei mit Ihnen abgesprochen gewesen. Warum sind es aber gerade die SPD-Minister, die am weitesten von den Vorgaben abweichen? 8,3 Milliarden mehr für Innenministerin Faeser, 7,4 Milliarden mehr für Arbeitsminister Heil, 6,6 Milliarden mehr für Verteidigungsminister Pistorius und 2,3 Milliarden mehr für Entwicklungsministerin Schulze. Allein die SPD-Minister wollen also rund 25 Milliarden Euro mehr haben als vom Kanzler und Finanzminister vorgeschrieben. Wie kann das sein?
Steigen Sie aus Lindners Porsche aus, Sie sind auf einer Geisterfahrt!
Gleichzeitig sagen Sie: „Wir dürfen uns weder am sozialen Zusammenhalt versündigen noch darauf verzichten, das Wachstum anzukurbeln“. Das sind warme Worte, die aber nichts mehr bedeuten. Denn am Sozialstaat, konkret: beim Bürgergeld, haben Sie sich schon versündigt. Die Rente mit 63 wollen Sie zwar retten, aber die normalen Renten sind für viele Menschen ohnehin längst erbärmlich niedrig, dazu noch von der Inflation entwertet worden. Und solange für die Schuldenbremse gekürzt werden muss, schadet es selbstverständlich dem Wachstum. Sparpolitik ist Gift in der Krise. Egal, wo gespart wird. So wenig wie ein Bodybuilder Muskeln mit einer Hungerdiät aufbaut, so wenig kann ein Kanzler sich Wachstum von einer Sparpolitik erhoffen. Steigen Sie aus Lindners Porsche aus, Sie sind auf einer Geisterfahrt!
Noch absurder aber war Ihre Antwort auf die Frage nach erneuten Ausnahmen von der Schuldenbremse, gegen die Lindner und die FDP sich sträuben. "Wir sollten uns das Leben nicht zu leicht machen. Jetzt ist erst mal Schwitzen angesagt", haben Sie geantwortet. Abermillionen Menschen schwitzen aus Angst und Sorge, weil die Infrastruktur bröckelt, Löhne und Renten zu klein sind, die Erde jedes Jahr neue Hitzerekorde erklimmt und die AfD erstarkt. Diese Menschen lachen über Sie, wenn zwei Polit-Millionäre wie Sie und Herr Lindner wegen der Schuldenbremse schwitzen.
Die Antwort ist aber auch entlarvend. Sie offenbart, dass es Ihnen nicht um ökonomische Vernunft geht, sondern um Ideologie und Dogma. Die Schuldenbremse ist längst Selbstzweck geworden, und nicht mehr Mittel zum Zweck.
Herr Scholz, meinetwegen können Sie sich mit Herrn Lindner und der Schuldenbremse geißeln und nassschwitzen, bis Sie beide blau anlaufen. Aber bitte lassen Sie doch das Land daraus. Es gibt zu viele Probleme, die gelöst werden wollen, als dass so eine alberne Rhetorik der Lage gerecht würde.
Zumal jeder weiß: Aktenfresser wie Sie schwitzen nicht vor Anstrengung, höchstens vor Angst. Zum Beispiel dann, wenn einem vermeintliche Cum-Ex-Erinnerungslücken auf die Füße zu fallen drohen. Ihre Treffen mit dem Betrüger-Bänker Olearius haben Sie verdrängt, nicht vergessen. Ich glaube Ihnen die Erinnerungslücken nicht. Sie sind Olaf Scholz, nicht Joe Biden. Deshalb: Vergessen Sie Ihre Macht nicht und nutzen sie für sozialdemokratische Politik. Es könnte Ihr letztens Jahr als Kanzler sein. Machen, nicht meckern!
Sehr gute Argumentation! Danke Maurice!
Maurice on fire :-) Starker Artikel, like!