Sparstaat oder Respektrepublik?
Wie eine neue Finanzpolitik aussehen könnte. Eine exklusive Leseprobe aus dem Buch "Gutes Geld" von Philippa Sigl-Glöckner
“Das Buch “Gutes Geld” ist ein Must-Read für alle, die sich für deutsche Finanzpolitik interessieren. Sigl-Glöckner erklärt die Mechanik der Schuldenbremse und ihre fatale Wirkung. Sie deckt auf, wie es zu den strengen europäischen Schuldenregeln kam und entlarvt verbreitete Mythen. Und: Sie skizziert, wie eine gute Finanzpolitik in Zukunft aussehen sollte. Die Leseprobe erlaubt einen Einblick in ihre Skizze von der Zukunft.” - Maurice Höfgen
Die Schuldenquote nicht mehr so wichtig zu nehmen, geht schnell. Die Finanzpolitik so zu ändern, dass mehr Geld in den Nutzleistungen (guten Jobs, Renten, Erziehung, Bildung und Pflege) zirkuliert, ist mühselig. Vor allem bietet eine solche Neuausrichtung der Finanzpolitik weniger Möglichkeiten für schnelle Tugendsignale als die Verabschiedung neuer Schuldenregeln. Es geht um nicht weniger als ein neues deutsches Wachstumsmodell.
Mehr Bildung will eigentlich jeder, eine würdigere Altenpflege und anständige Löhne auch. Aber das etablierte Geschäftsmodell aufkündigen, das das Land zum Exportweltmeister und den Industriearbeiter stolz gemacht hat?
In sich ist der bisherige Kurs kohärent. Seit der Einführung des Euros wächst Deutschland über den Export. Aus dem Handelsbilanzdefizit im Jahr 2000 wurde innerhalb von sieben Jahren ein Überschuss von sieben Prozent. ›Hidden‹ und ›not so Hidden Champions‹ verkauften dem Ausland mehr und mehr schnurrende Motoren, Laser und Antikörper. Unternehmen und Beschäftigte verdienten gut. Denkt man an den klassischen guten Job für jemanden mit Berufsausbildung (weiterhin die Mehrheit in Deutschland), mit hoher Sicherheit und dreizehntem Monatsgehalt, ist es immer noch der in der Industrie.
Zu einem solchen Geschäftsmodell passt ein anämischer Geldfluss in Richtung Nutzleistungen wie der Janker zum Dirndl. Je mehr Geld für soziale Dienstleistungen gebraucht wird, desto höhere Abgaben muss schließlich irgendjemand zahlen. Hohe Abgaben sind aber gar nicht gut für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Und flösse tatsächlich mehr Geld in Nutzleistungen, stiegen höchstwahrscheinlich auch die Lohnkosten.
Es sieht so aus, als wäre das Reservoir an Leuten, die gerne für vergleichsweise wenig Geld maximal verdichtete Arbeit leisten, zumindest in Deutschland erschöpft. Auch das ist nicht im Interesse des deutschen Geschäftsmodells. Steigende Löhne verschlechtern schließlich auch die Wettbewerbsfähigkeit. Bisher ist es gelungen, das zu verhindern. Seit Einführung des Euros sind die Lohnkosten in Deutschland sehr viel langsamer gewachsen als in den anderen großen europäischen Wirtschaften. Wir reden hier nicht von einem Unterschied von fünf Prozent, sondern von 25 und mehr. In den Niederlanden wuchsen die Lohnkosten fast doppelt so schnell.
Aus Sicht des deutschen Industriearbeiters mag das nicht schön, aber nachrangig sein, weil sein Lohn bereits gut zum Leben reicht und er latente Angst um seinen Job hat. Niedrige Lohnkosten sind für die Exportwirtschaft hilfreich, weil sie die heimische Nachfrage niedrig halten und so dafür sorgen, dass auch dauerhaft die Lohn-Preis-Spirale niemandem das Geschäft versaut.
Wissenschaftler sind sich nicht einig, was Ursache und was Effekt ist: ob das deutsche Geschäftsmodell von der Exportwirtschaft getrieben wird, zu der ein kleiner Staat passt; oder ob der Sparstaat dazu führt, dass die Wirtschaft nur über Exporte wachsen kann. Ganz gleich, welche Seite die treibende Kraft ist: Mit Autos vollbeladene, gen USA segelnde Containerriesen und anämische Geldströme in Richtung der Nutzleistungen passen zusammen. Je nach Auge des Betrachters ist der Nutzleistungsteil der Wirtschaft schlank oder verkümmert. Wer aus einem Sparstaat eine Respektrepublik machen möchte, wird auch Antworten für die Industrie finden müssen. Und genau das ist die Sollbruchstelle einer Reform des deutschen Wirtschaftsmodells.
Mehr Bildung will eigentlich jeder, eine würdigere Altenpflege und anständige Löhne auch. Aber das etablierte Geschäftsmodell aufkündigen, das das Land zum Exportweltmeister und den Industriearbeiter stolz gemacht hat? Vor allem, wenn die Amerikaner gerade händeringend versuchen, wieder Industrieland zu werden, nachdem sich die Dienstleistungswirtschaft nicht als das gelobte Land herausstellte, in dem für alle Milch und Honig fließen? »If it ain’t broke, don’t fix it«, soll Jimmy Carters Direktor des Office for Management and Budget, Bertram Lance, als Maxime für die damalige US-Regierung ausgegeben haben. Es hat einen Grund, wieso Robert Habeck, grüner Wirtschaftsminister, von Zinkhütte zu Autowerk reist, anstatt eine Wirtschaft der Kinderbuchautoren und Sozialpädagogen zu predigen.
Heute fehlt nicht nur die Nachfrage, es fehlen auch zunehmend die Ressourcen, die eine wettbewerbsfähige Exportwirtschaft erhalten: Kindergärten, gut ausgebildete Fachkräfte, Infrastruktur, eine öffentliche Verwaltung, die Vorgänge schnell, digital und effizient abwickelt.
Das deutsche Geschäftsmodell als kaputt zu bezeichnen, mag etwas weit gehen, reparaturbedürftig ist es sicher. Selbst derjenige, der das Ziel von Freiheit als Nichtbeherrschung nicht teilt und möglichst wenig staatliches Geld für Nutzleistungen als schlanken, nicht anämischen Staat empfindet, steht vor einem Wachstumsproblem. Die IWF-Ökonomin Mai Dao hat sich angesehen, wie Exportüberschüsse und die Geldzirkulation in der deutschen Wirtschaft zusammenhängen. Ihre Erkenntnis: Der Großteil der steigenden Exporteinkommen wurde entweder in Dividenden ausgezahlt, tendenziell an wohlhabende Haushalte, oder in Familienunternehmen einbehalten, die meist auch wohlhabenden Haushalten gehören. Da wohlhabende Haushalte dazu neigen, einen größeren Anteil ihres Einkommens zu sparen als ihre weniger betuchten Mitbürger, fließt weniger Geld zurück in den Wirtschaftskreislauf.
Stattdessen wird das Geld angelegt, zum Beispiel in geschlossenen Immobilienfonds in Ostdeutschland, einem Waldfonds in Brasilien oder in Schiffscontainern. Manche dieser Anlagen mögen auch gesamtgesellschaftlich sinnvoll sein. Dennoch fehlt auch bei sinnvollen Anlagen die Nachfrage in der deutschen Realwirtschaft. Die Löhne außerhalb der Industrie sind zu niedrig. Im europäischen Vergleich besteht nur in Litauen und Lettland ein größerer Lohnunterschied zwischen dem Gesundheitssektor und der Industrie als in Deutschland. Es braucht also noch mehr Exporte, um das Wachstum am Laufen zu halten. Die Abhängigkeit vom Ausland und die Unwucht in der Wirtschaft werden immer größer. Heute fehlt nicht nur die Nachfrage, es fehlen auch zunehmend die Ressourcen, die eine wettbewerbsfähige Exportwirtschaft erhalten: Kindergärten, gut ausgebildete Fachkräfte, Infrastruktur, eine öffentliche Verwaltung, die Vorgänge schnell, digital und effizient abwickelt.
Es sollte heute im Interesse des Exportunternehmers sein, das Geschäftsmodell Deutschlands und das eigene im Tandem weiterzuentwickeln. Zumindest die Erzählung beim Investorentag könnte es wesentlich vereinfachen, wenn der eigene Jahresbericht China nicht zugleich als zentralen Risikofaktor für das Unternehmen und als den einen Wachstumsmarkt für die eigenen Produkte ausweist.
Der 2022 in den USA beschlossene Inflation Reduction Act wurde breit gefeiert als Rückkehr des handlungsfähigen Staats, galt und gilt auch heute noch als die herausragende ökonomische Weichenstellung (positiver oder negativer Natur, je nachdem, wen Sie fragen). De facto schuf der IRA innerhalb eines Jahres laut US-Regierung 170.000 neue Jobs in einem Land mit über 200 Millionen Einwohnern im Erwerbsalter. Selbst wenn es am Ende knapp fünf Millionen zusätzliche Jobs werden sollten, wie ein Klima-Think-Tank schätzt, und man davon ausgeht, dass diese fünf Millionen Beschäftigten ganze Haushalte besserstellen, ist der Einfluss des IRA auf das Leben der Menschen in den USA insgesamt begrenzt. Gerade mal vier Prozent der Bevölkerung würden direkt profitieren, und das unter sehr optimistischen Annahmen. Der IRA war wahrscheinlich eine kleine ökonomische Revolution. Trotzdem ist er weit davon entfernt, für einen Großteil der Bevölkerung merkbare Veränderungen zu bewirken.
Eine bessere Betreuung und Schulausbildung kann, konservativ geschätzt, in Deutschland das Leben von drei Millionen Kindern zum Besseren verändern.
Eine Finanzpolitik, die auf die Wirtschaftsnutzleistung abzielt, wirkt in ganz anderen Dimensionen. Eine bessere Betreuung und Schulausbildung kann, konservativ geschätzt, in Deutschland das Leben von drei Millionen Kindern zum Besseren verändern. Von einer Politik, die es schafft, Löhne auf ein Niveau zu heben, von dem man anständig leben kann, könnten bis zu 23 Millionen Menschen profitieren, von einer, die sich um ein ausreichend hohes Alterseinkommen kümmert, acht Millionen. Dazu kommen die Verbesserungen in der Lebensqualität für Eltern, Gepflegte und Pflegende. Zählt man Letztere nicht dazu, um Dopplungen zu vermeiden, hat eine Politik, die versucht, die Nutzleistung der Wirtschaft zu erhöhen, grob geschätzt 34 Millionen Adressaten, mehr als 40 Prozent der deutschen Bevölkerung.
Man stelle sich vor, all die Experten, die heute an der Schätzung des Produktionspotenzials, der Optimierung des Haushalts für die Regeln der Schuldenbremse oder an den europäischen Schuldentragfähigkeitsanalysen arbeiten, könnten sich ab morgen mit den Geldflüssen in unserer Wirtschaft beschäftigen. Anstatt nach mehr oder weniger zufälligen Indikatoren zu urteilen, würden sie all ihre Intelligenz nutzen, um diese Geldflüsse mit den politischen Zielen abzugleichen, komplizierte Fragen zur finanziellen Nachhaltigkeit auszuleuchten und ihrem Minister Vorschläge zu machen, wie er tatsächlich die Wirtschaft gestalten kann. Seine Haushaltspressekonferenz wäre wesentlich spannender als die vergangenen Schuldenquoten-Litaneien, die nichts bedeuteten und die nie jemand beabsichtigt hatte.
Wer noch mehr erfahren möchte: Ich habe auch ein Interview mit Philippa Sigl-Glöckner geführt. Hier entlang!
Hier der Versuch einer Erklärung auf Hajo Zellers Verwunderung warum die Unternehmer scheinbar gegen ihre eigenen Interessen handeln:
Ich sehe zwei Gründe als Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der Unternehmer;
1. Seit die Unternehmen von der Schuldner-Rolle in die Sparer-Rolle gewechselt haben ist für die Unternehmer ein absoluter Zuwachs mit der Frage verbunden, was mache ich mit den zusätzlichen Gewinnen. Ein Abbau der Schulden für Investitionskredite ist weitestgehend nicht mehr erforderlich. Die Gewinne wandern statt in Investitionen als Spekulationen in die Finanzmärkte, deren Gewinne nur aus Preisveränderungen ohne weiteren Nutzen entstehen. Hier zeichnet sich ein absehbares Ende ab und damit fehlt die Motivation die Gewinne absolut zu steigern.
2. Der Grenznutzen für absolut steigende Gewinne ist offensichtlich gering bis negativ. Wichtiger für die Unternehmer-Klasse sind der Erhalt und die Vergrößerung der Geld-Macht. Dies führt zwingend zur Begrenzung der Einkommen der Nichtunternehmer vorzugsweise verstärkt durch die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Dass zur Zeit aufgeführte Theater um VW mit Aufkündigung langjähriger Tarifverträge und die Androhung von Werksstillegungen passt in diese Machtdemonstration.
Die verwendete Formel (Eu + Enu = I + C und die Umformung Eu= I + Cu – Snu) berücksichtigt den Geld-Macht-Aspekt offensichtlich nicht. Hier bestätigt sich dass der Mensch eben kein Homo Ökonomikus ist sondern als soziales Wesen auch von anderen Überlegungen außer wirtschaftlicher Logik getrieben ist.
Nachtrag: Der erste Satz meines vorstehenden Kommentars muss lauten:
Vermutlich wird ein Umdenken ohne die monetäre und ökonomische Alphabetisierung der Gesamtbevölkerung und auch von Managern nicht stattfinden.