Warum Frankreich nicht Griechenland wird
Warum auf den Regierungssturz in Frankreich keine Schuldenkrise droht, aber Marine Le Pen die große Gewinnerin ist
Es ist schon wieder passiert: das europäische Spardiktat hat eine Regierung zu Fall gebracht. Diesmal die französische Minderheitsregierung von Michel Barnier. Während Frankreich in der Presse als Sorgenkind kurz vor der Schuldenkrise gehandelt wurde, hat der gestürzte Premierminister Barnier einen Kürzungshaushalt ohne Abstimmung durch das Parlament gepeitscht – und so sein Vertrauen im Parlament verspielt, sowohl im linken Lager als auch bei der rechten Partei Rassemblement National von Marine Le Pen. Heute hat er seinen Rücktritt beim Präsidenten Macron eingereicht.
Da der Kürzungshaushalt ohnehin seit Monaten ein Streitthema war, verwundert es, dass Barnier einen Sonderartikel der Verfassung nutzte, um den Haushalt am Parlament vorbeizumogeln. Die Krise und das Misstrauensvotum gegen ihn war damit vorprogrammiert. Ehrlicherweise ist Barnier also nicht nur an den Schuldenregeln gescheitert, sondern auch an seinem eigenen politischen Unvermögen. Das Timing könnte aber nicht schlechter sein. Denn mit Deutschland und Frankreich stehen die zwei größten Volkswirtschaften der EU kurz vor Trumps Amtsantritt ohne Führung da.
Ein Blick auf die Zahlen verrät: der Vergleich mit Griechenland ist maßlos übertrieben.
Droht Frankreich eine Schuldenkrise?
Das ökonomische Problem ist aber größer als die Regierungskrise um Barnier. Jeder Nachfolger wird vor einem ähnlichen Problem stehen: die EU-Kommission hat ein Defizitverfahren gegen Frankreich eingeleitet und verlangt, die Neuverschuldung drastisch zu reduzieren. Auch der französische Rechnungshof drängt darauf. Der Leiter des Rechnungshofs, Pierre Moscovici, machte neulich mit dieser Warnung Schlagzeilen: „Unsere finanzielle Situation ist heute gefährlich“. Dazu kommt der Druck der Ratingagenturen, der Anleger nervös macht. Schon vor den Neuwahlen im Sommer hatten sich die Branchenriesen Fitch, S&P und Moody‘s besorgt über Frankreichs Schuldenstand geäußert.
Noch hat Frankreich bei allen drei gute bis sehr gute Noten, aber das Regierungschaos, der gescheiterte Sparhaushalt und das Defizitverfahren der EU lassen die Stimmung weiter kippen. "Wir könnten die Ratings für Frankreich herabsetzen, wenn die Regierung nicht in der Lage ist, ihre hohen Haushaltsdefizite zu reduzieren oder das Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum unter unsere Prognosen fällt", hieß es etwa von S&P. Eine Folge: Die Risikoaufschläge auf französische Anleihen steigen und lagen letzte Woche erstmals über denen für griechische Anleihen. Droht Frankreich nun das neue Griechenland zu werden?
Wird Frankreich das neue Griechenland?
Nein. Ein Blick auf die Zahlen verrät: der Vergleich mit Griechenland ist maßlos übertrieben. In der Krise musste Griechenland auf zehnjährige Anleihen bis zu 35 Prozent Zinsen zahlen und jeder fünfte Euro aus dem Haushalt ging für Zinskosten drauf. Frankreichs Anleihen rangieren bei unter drei Prozent und nur jeder fünfundzwanzigste Euro aus dem Haushalt ist für Zinskosten.
Außerdem ist die französische Wirtschaft die letzten zwei Jahre jeweils um 1,1 Prozent gewachsen und liegt drei Prozent über dem Vorkrisenniveau von 2019. Das ist nicht beeindruckend, aber besser als Deutschland, und eine völlig andere Lage als Griechenland sie vor 14 Jahren hatte. Dort brach die Wirtschaft von 2008 bis 2013 um fast ein Drittel ein. Übrigens: Noch heute liegt das reale Bruttoinlandsprodukt der Griechen 21 Prozent unter dem von 2008 – und damit auf dem Niveau von 2001. Griechenland hat also mehr als zwei Jahrzehnte verschenkt.
Auch politisch ist Frankreich im Vergleich zu Griechenland ein Schwergewicht. Frankreich ist schließlich die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, Mitglied der G7 und des UN-Sicherheitsrats. Eine EU kann ohne Frankreich nicht existieren, ohne Griechenland aber schon. Leichtfertig sind deshalb all jene Wirtschaftsjournalisten, die aus Frankreich einen neuen Fall Griechenland konstruieren.
Seit fast 20 Jahren haut die EU-Kommission auf Frankreichs Neuverschuldung ein, aber nicht auf die deutschen Exportüberschüsse.
Warum Frankreich nicht sparen kann wie Deutschland
Was mit Blick auf den französischen Haushalt stimmt: Allein dieses Jahr macht der Pariser Finanzminister neue Schulden von mehr als 170 Milliarden Euro. Das entspricht etwas mehr als 6 Prozent der Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: Sechs Prozent entsprächen in Deutschland grob 240 Milliarden neuen Schulden. Also fünf Mal mehr als die Ampel dieses Jahr tatsächlich macht.
Und tatsächlich hat Frankreich in jedem Jahr seit Gründung des Euros ein Staatsdefizit gehabt, die meisten Jahre sogar größer als drei Prozent – und damit gegen die EU-Schuldenregeln verstoßen. Nach der Finanzkrise hatten Deutschland und Frankreich einen ähnlichen Schuldenstand von rund 80 Prozent der Wirtschaftsleistung, heute steht Frankreich bei 112 Prozent, Deutschland bei 62 Prozent.
Der entscheidende Unterschied: Deutschland wird dieses Jahr einen Exportüberschuss von rund 250 Milliarden Euro haben, Frankreich hingegen einen Importüberschuss von 130 Milliarden Euro. Heißt: Das Ausland verschuldet sich in Deutschland mit 250 Milliarden und Frankreich sich beim Ausland mit 130 Milliarden Euro.
Natürlich ist es für den deutschen Staat dann einfacher, die Schuldenregeln einzuhalten, als für Frankreich. Andersherum: Hätte Deutschland nicht einen derart großen und übrigens auch EU-regelwidrigen Exportüberschuss, müsste der deutsche Staat auch mehr Schulden machen. Zumindest, solange die privaten Haushalte und Unternehmen sparen wollen. Denn allein die Gesetze der Buchhaltung sagen uns: Wenn einer sparen will, muss sich wer anders verschulden, ansonsten fehlt Nachfrage und die Wirtschaft schmiert ab. Der deutsche Sonderweg, dass das Ausland jedes Jahr die Schulden macht, um den Privaten das Sparen zu ermöglichen, funktioniert aber nicht für die Welt. Denn die Welt kann keinen Exportüberschuss haben. Schließlich sind die Exporte des einen, die Importe eines anderen – und saldieren sich zu null!
Die starren EU-Regeln sind auf dem Auge aber blind. Sie berücksichtigen den einfachen, aber fundamentalen Unterschied in den Handelsbilanzen gar nicht. Das ist einer der großen Konstruktionsfehler der EU. Seit fast 20 Jahren haut die EU-Kommission auf Frankreichs Neuverschuldung ein, aber nicht auf die deutschen Exportüberschüsse. Dabei hängt beides sogar direkt zusammen, weil Deutschland Anfang der 2000er mit der Agenda 2010 eine interne Abwertungsstrategie verfolgt und damit Frankreichs Exporteuren auf den Weltmärkten Marktanteile geklaut hat. Wohin das führt, sieht man jetzt an der Regierungskrise in Frankreich. Die EU treibt man so auseinander, anstatt sie zu einen. Ein Spiel mit dem Feuer.
Statt sich innenpolitisch zu verbrennen, hätte Barnier besser die Öffentlichkeit ersucht, um die Probleme der EU-Regeln und die deutsche Arroganz zum Thema zu machen. Auch der deutsche Ex-Finanzminister (!) Christian Lindner, der die EU-Regeln erst neu verhandelt und Frankreich zum Sparen ermahnt hat, ist nämlich blind für diesen Zusammenhang.
Die Kürzungspläne von Barnier
Zu den konkreten Plänen von Barnier: 40 Milliarden Euro wollte er aus dem Haushalt kürzen und 20 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen. Neben einem Stellenabbau in Behörden und Schulen waren Kürzungen bei der Gesundheit und der Rente vorgesehen. So sollten etwa die Erstattungen der staatlichen Krankenkassen für Arztbesuche gekürzt und die inflationsbedingte Rentenanpassung um ein halbes Jahr aufgeschoben werden. Außerdem war der Rotstift für Zuschüsse für den Kauf von E-Autos vorgesehen und eine Anhebung der Stromsteuern. Alles Maßnahmen, die kleine Einkommen, die Konjunktur und die Transformation belasten. Immerhin: der Regierungsstreit hat dazu geführt, dass Barnier schon von der Absenkung der erstatteten Medikamentenkosten und der Anhebung der Stromsteuer abgerückt war.
Im Kontrast zu diesen Maßnahmen stand der Plan, für Großunternehmen mit Milliardengewinnen die Unternehmensteuer vorübergehend von 25 auf 36 Prozent anzuheben sowie Unternehmer und Manager mit mehr als 250.000 Euro Jahreseinkommen mit einer befristeten Sonderabgabe von mindestens 20 Prozent zu belegen.
Was davon nun wirklich noch kommt, ist offen und abhängig von der neuen Regierung. Das Spardiktat der EU und Finanzmärkte ist aber toxisch für Frankreich, das mit Deindustrialisierung, hoher Arbeitslosigkeit und einem politischen Rechtsruck zu kämpfen hat. Großer Gewinner der Krise ist die Partei Rassemblement National von Marine Le Pen.
Mal wieder eine schnelle und fundierte Analyse zu den ökonomischen Hintergründen der politischen Krise in Frankreich mit volkswirtschaftlichen Zusammenhängen, die man in der sonstigen Berichterstattung vergeblich sucht. Vielen Dank bzw. merci beaucoup! Erschreckend besonders, welchen verheerenden Einfluss unkritisch übernommene technische Finanzregeln auf die Gesellschaft haben können. Hierzu würde man sich eine öffentliche Diskussion wünschen.
Achtung: Michel Barnier, nicht Jean B.