Wie der Respekt-Kanzler beim Mindestlohn einknickte
Die Mindestlohnkommission ignoriert das Mindestlohngesetz und die Bundesregierung schaut zu. Eine exklusive Leseprobe
“Der renommierte Ökonom Prof. Tom Krebs rechnet in seinem neuen Buch Fehldiagnose mit marktliberalen Ökonomen und der Ampel ab. Ob Gaskrise, Heizungsgesetz, Rezession oder Kindergrundsicherung: Krebs deckt auf, was schiefgelaufen ist – und wie es besser hätte laufen können. Und er skizziert seinen Weg aus der Dauerkrise. Ein Buch am Puls der Zeit, das man gelesen haben sollte!” - Maurice Höfgen
Faire Löhne sind ein vielversprechender Ansatz, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ein flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro wurde am 1. Januar 2015 eingeführt. Dies war in den Augen vieler Menschen gerecht, weil es ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Wertschätzung für jede Art der Erwerbsarbeit signalisierte. Marktliberale Ökonomen und konservativ-liberale Politiker sprachen sich jedoch dagegen aus. Sie kritisierten, dass ein Mindestlohn angeblich Arbeitsplätze kosten würde. Beispielsweise berechneten Ökonomen, dass fast eine Million Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Und der damalige Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn malte öffentlichkeitswirksam das Schreckgespenst der Massenarbeitslosigkeit an die Wand.
Diese Horrorszenarien sind nicht eingetreten. Marktliberale Ökonomen lagen mit ihren Prognosen wieder einmal falsch. Das ist nicht überraschend, denn ihre Prognose basierten auf einer Theorie des Arbeitsmarkts, die nichts mit der ökonomischen Realität zu tun hat und hinreichend häufig empirisch widerlegt wurde. In der fiktiven Welt marktliberaler Ökonomen ist der Arbeitsmarkt vergleichbar mit dem Wochenmarkt für Äpfel und Birnen. Von den empirischen Fehlern dieser kruden Theorie werden wir noch berichten, denn sie haben zu einem grundsätzlichen Umdenken in der Arbeitsmarktforschung geführt.
Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 hatte den Effekt, dass mehr als vier Millionen Erwerbstätige mit geringem Einkommen eine teilweise kräftige Gehaltserhöhung erhielten. Die Verbesserung des Erwerbseinkommens von Geringverdienern ist das zentrale Ziel eines Mindestlohns. Er soll gewährleisten, dass eine vollzeitbeschäftigte Person ohne weitere Unterstützung vom Staat angemessen leben kann. Eine existenzsichernde Entlohnung ist auch eine Frage der Fairness. Zusammen mit anderen Leitplanken wie Tarifbindung und Mitbestimmung bildet sie das Fundament einer sozialen Marktwirtschaft.
Folglich war es legitim, dass die Frage »Wie hoch ist der existenzsichernde Mindestlohn?« ein zentrales Thema im Bundeswahlkampf 2021 war. Zwar gibt es eine Mindestlohnkommission, doch deren Hauptaufgabe sollte es sein, Arbeitsmarktanalysen durchzuführen und daraus eine Empfehlung für die Bundesregierung zu erstellen. Die Entscheidung zur Höhe des Mindestlohns, und somit auch die Entscheidung über die Frage der Existenzsicherung mittels Erwerbsarbeit, trifft letztlich die Bundesregierung beziehungsweise der Bundestag. So ist es auch im Mindestlohngesetz festgehalten – die Kommission schlägt vor und der Gesetzgeber entscheidet. Und es ist sicherlich nachvollziehbar und demokratietheoretisch zu begrüßen, wenn eine Regierung ihre Entscheidung hinsichtlich der Mindestlohnhöhe, die Millionen von Wählern direkt betrifft, in einem Wahlkampf zu einem zentralen Thema macht. Wie sonst soll in einer Demokratie, in der Volksabstimmungen kein gängiges Mittel der Entscheidungsfindung sind, der Wählerwillen zum Ausdruck gebracht werden?
Die Inflation bildet eine zentrale Größe zur Bestimmung eines angemessenen Mindestlohns. Denn es ist die Kaufkraft, die zusammen mit unserer Vorstellung von einem angemessenen Leben bestimmt, ob ein gewisses Erwerbseinkommen existenzsichernd ist. SPD und Grüne hatten im Bundeswahlkampf 2021 den Wählern einen Mindestlohn von 12 Euro versprochen und damit indirekt zum Ausdruck gebracht, was sie unter einem existenzsichernden Lohn verstehen. Für den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz war diese Forderung das zentrale Wahlkampfversprechen, wie er immer wieder betonte – es war für ihn Sozialdemokratie pur. Der Anhebung auf 12 Euro wurde dann auch im Koalitionsvertrag vom November 2021 festgehalten und mit einer Modifizierung des Mindestlohngesetzes 2022 umgesetzt. Wahlversprechen gehalten, würde der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz wohl sagen.
Nicht ganz, denn seit dem Wahlkampf 2021 ist viel passiert. Der Krieg in der Ukraine hat einen Energiepreisschock ausgelöst, der die Inflation anheizte. 2022 und 2023 stiegen die Energiepreise um rund 50 Prozent, die Preise für Lebensmittel um rund 30 Prozent und für alle Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs um circa 13 Prozent (siehe Abbildung 3). Dieser Inflationsschub war nicht vorhersehbar, muss aber beim Mindestlohn natürlich berücksichtigt werden. Wenn 12 Euro 2021 als existenzsichernd galten, sollte der Mindestlohn Anfang 2024 mindestens 13 Prozent höher liegen. Unter der vorsichtigen Annahme von insgesamt 4 Prozent Inflation in den Jahren 2024 und 2025 ergibt sich eine kumulative Inflation von 17 Prozent im Zeitraum 2022 bis 2025. Ein existenzsichernder Mindestlohn von 12 Euro 2021 entspricht also einem Mindestlohn von rund 14 Euro 2025. Das berücksichtigt noch nicht, dass Geringverdiener tendenziell einen größeren Anteil ihres Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben als der durchschnittliche Haushalt. Wenn diese Perspektive in die Berechnung einbezogen wird, ergibt sich ein angemessener Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2025.
Diese Überlegungen sind bekannt und wurden innerhalb der Mindestlohnkommission diskutiert. Nach der einmaligen Erhöhung auf 12 Euro durch die Ampelregierung hatte diese Kommission die Aufgabe, fundierte Empfehlungen für die Zeit bis 2025 zu erstellen. Dies ist leider nicht gelungen. Am 26. Juni 2023 beschlossen die drei Vertreter der Arbeitgeberseite zusammen mit der Kommissionsvorsitzenden gegen die Stimmen der drei Arbeitnehmervertreter, der Bundesregierung eine Minierhöhung zu empfehlen: eine Anhebung auf 12,41 Euro im Januar 2024 und weiter auf 12,82 Euro im Januar 2025. Diesen Vorschlag überreichte die Kommission am selben Tag dem Arbeitsminister Hubertus Heil, der zwar sein Bedauern im Hinblick auf den fehlenden Konsens innerhalb der Mindestlohnkommission aussprach, aber ansonsten kritiklos die Umsetzung per Rechtsverordnung versprach. So kam es, dass der Mindestlohn zum 1. Januar 2024 nur um gut 3 Prozent auf 12,41 Euro erhöht wurde. Zudem wird es voraussichtlich auch im Januar 2025 nur eine Erhöhung um rund 3 Prozent auf 12,82 Euro geben.
Wie konnte es passieren, dass die Kommissionsmehrheit nur eine Minianhebung empfahl? Die Mindestlohnkommission muss ihre Vorschläge begründen. Es empfiehlt sich daher, die offizielle Begründung der drei Arbeitgebervertreter, der sich die Vorsitzende anschloss, sowie die Gegenposition der drei Arbeitnehmervertreter zu betrachten. Die Argumente der beiden Seiten sind im Beschluss der Mindestlohnkommission skizziert.
Und warum sollte jemand SPD wählen, um dann doch nur neoliberale Wirtschaftspolitik nach FDP-Geschmack vorgesetzt zu bekommen?
Die Lektüre des dreiseitigen Dokuments zeigt: Die Kommissionsmehrheit hat im Wesentlichen den 12-Euro-Beschluss der Bundesregierung und damit auch das aktuelle Mindestlohngesetz ignoriert. Das Argument der Arbeitgebervertreter setzte bei einem Mindestlohn von 10,45 Euro an, der von der Kommission im November 2020 als Empfehlung für Juli 2022 beschlossen wurde. Ausgehend von diesem niedrigen Wert wurde dann der Anstieg des Tarifindex als Grundlage der Berechnung der Mindestlohnerhöhung verwendet. Das Dokument erwähnt zwar auch, dass die Mehrheitsentscheidung die einmalige Anhebung auf 12 Euro berücksichtigt, aber dies ist in sich widersprüchlich. Entweder ist die Grundlage der Berechnungen ein existenzsichernder Mindestlohn von 12 Euro, wie es das im Jahr 2022 modifizierte Mindestlohngesetz besagt, oder sie ist ein Mindestlohn von 10,45 Euro für 2022, wie es der letzte Beschluss der Kommission vom November 2020 vorsah. Diese Widersprüchlichkeit wurde nie aufgelöst und entsprechend skurril fielen die Antworten auf die Fragen der Journalisten in der Pressekonferenz aus.
Warum hat die Regierung nicht darauf hingewiesen, dass sie sich zur Umsetzung der EU-Richtlinien bis Oktober 2024 verpflichtet hat und diese nach gängiger Auslegung für Deutschland einen Mindestlohn von über 14 Euro erfordert?
Der fragwürdige Beschluss der Mindestlohnkommission ist problematisch, aber ein noch größeres Problem ist, dass die Bundesregierung deren Empfehlung klaglos folgte und die Minierhöhung auf 12,41 Euro umsetzte. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundeskanzler Olaf Scholz haben sich zwar immer wieder als Verfechter eines angemessenen Mindestlohns in der Öffentlichkeit geriert, und im Mai 2024 machte Scholz Schlagzeilen mit der Forderung nach einem Mindestlohn von 15 Euro, doch geschehen ist bisher nichts. Warum hat die Bundesregierung nicht die Mehrheitsempfehlung der Kommission bereits 2023 mit dem Verweis abgelehnt, dass der Vorschlag nicht angemessen sei und gegen die Stimme der Arbeitnehmervertreter erfolgte? Warum hat die Regierung nicht darauf hingewiesen, dass sie sich zur Umsetzung der EU-Richtlinien bis Oktober 2024 verpflichtet hat und diese nach gängiger Auslegung für Deutschland einen Mindestlohn von über 14 Euro erfordert? Und warum hat die sozialdemokratisch geführte Ampelregierung nicht im Schulterschluss mit den Gewerkschaften eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf 14 oder sogar 15 Euro bis 2025 noch in dieser Legislaturperiode beschlossen? Die vielen Beschäftigten mit geringem Einkommen hätten es ihr sicherlich gedankt, und die Politik hätte an Glaubwürdigkeit gewonnen.
Der Grund für das Nichthandeln von Bundeskanzler und Arbeitsminister war die Angst vor der FDP, die zusammen mit den marktliberalen Ökonomen und großen Teilen der Union einen solchen Schritt auf Schärfste verurteilt hätten. Politische Streitereien innerhalb der Ampelkoalition wären vorprogrammiert gewesen, und die Berichterstattung in den Medien wäre entsprechend negativ ausgefallen. Machtpolitisch ist die Entscheidung von Olaf Scholz und Hubertus Heil also nachvollziehbar, aber aus gesellschaftspolitischer Sicht ist sie verheerend. Denn wie glaubwürdig kann eine sozialdemokratisch angeführte Bundesregierung sein, deren Arbeitsmarktpolitik im Wesentlichen von der FDP und ihren arbeitnehmerfeindlichen Ideen bestimmt wird? Und warum sollte jemand SPD wählen, um dann doch nur neoliberale Wirtschaftspolitik nach FDP-Geschmack vorgesetzt zu bekommen? In Anbetracht solcher Entscheidungen gegen die Interessen von Millionen von Beschäftigten, die offensichtlich nur durch ein politisches Machtkalkül zu rechtfertigen sind, kann es nicht verwundern, dass die Zustimmung für die SPD seit der Bundestagswahl 2021 drastisch gefallen ist.
Früher hieß es mal, der Kanzler bestimme die Richtlinien der Politik.
Heutzutage tut dies anscheinend oft die FDP. Auch dann, wenn sich ein Kanzler verbal anders positioniert hat.
Da aber Scholz und wohl ein Großteil der SPD von sachgerechter Wirtschaftspolitik, welche über Plusmacherei und Wettbewerbslogik hinaus geht, keine Ahnung hat, ist ein solcher Umstand kein Wunder, sondern schlichte Logik.
Wer hat uns verraten...again