Chaos mit Chaos bekämpfen?
Warum steigende Zinsen selbst so gefährlich sind wie steigende Preise
Niemand will hohe Inflation. Je höher und schneller die Preise steigen, desto mehr Chaos richtet sie an. Im Extremfall – einer Hyperinflation – versuchen alle, ihr frisch verdientes Geld am gleichen Tag noch auszugeben, weil es morgen schon weniger wert ist. Löhne werden nicht mehr monatlich ausgezahlt und jährlich verhandelt, sondern täglich gezahlt und wöchentlich verhandelt. Sparen, Planen, Investieren – alles nicht mehr möglich.
Noch schlimmer: Verträge abzuschließen, wird zum ökonomischen Risiko. Unsere Wirtschaft ist ein riesiges, dicht verwebtes Spinnennetz von Verträgen. Jeder vor uns hat etliche davon – mit dem Vermieter, der Bank, dem Arbeitgeber. Wer eine Firma besitzt, hat gar noch mehr Verträge – mit Geschäftspartnern, Lieferanten, Kunden und so weiter.
»Inflation verändert den Preis von Gütern, Zinsveränderungen der Zentralbank den Preis von Geld. Und, klar, beides erzeugt Unsicherheit und Chaos.«
In Verträgen werden Geldzahlungen für die Zukunft definiert, üblicherweise in nominaler Höhe, sprich: unabhängig von der Inflationsrate. Jeder kennt das von seinem Arbeitsvertrag, solange man den Vertrag nicht ändert, bleibt der Lohn gleich, egal was mit den Preisen passiert. So weit, so trivial. Die Krux liegt in der Geschäftsgrundlage.
Jede Zinsänderung zerrüttet die Geschäftsgrundlage
Die Geschäftsgrundlage meint die äußeren Umstände, unter denen ein Geschäft zustande kommt, die aber nicht explizit im Vertrag festgehalten sind. Das Bürgerliche Gesetzbuch sieht sogar vor, dass Verträge unter bestimmten Bedingungen angepasst werden können, wenn die Geschäftsgrundlage gestört ist.
»Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, […] « -Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 313 Störung der Geschäftsgrundlage
Jetzt ist es so, dass steigende Preise rechtlich gesehen keine solche Störung begründen, ökonomisch aber natürlich schon. Wenn die Preise steigen, wird die vertraglich festgezurrte Zahlung weniger wert. Deshalb wollen ja gerade alle Arbeitnehmer ihren Lohn neu verhandeln. Im Schnitt sind die Reallöhne (Löhne minus Inflationsrate) 2022 schließlich um rund vier Prozent gefallen.
Was bei steigenden Preisen allen klar ist, wird bei steigenden Zinsen aber nie diskutiert. Beides ändert aber die Geschäftsgrundlage von Verträgen, zumindest die ökonomisch. Inflation verändert den Preis von Gütern, Zinsveränderungen der Zentralbank den Preis von Geld. Und beides erzeugt Unsicherheit und Chaos.
»Im öffentlichen Diskurs gelten Zinsen als Beruhigungspille für eine überdrehte Wirtschaft. Das Gegenteil ist aber wahr.«
Entscheidungen unter falschen Prämissen
Eine Bank, die 2019 einen zehnjährigen Hauskredit für 1,5 Prozent vergeben hat, hat heute ein Problem. Dank der Zinserhöhungen bekommt die Bank für Geld, das sie einfach auf ihrem Konto bei der Zentralbank liegen lässt, 3,25 Prozent Zinsen. Ohne Risiko! Für den Hauskredit bekommt sie heute weniger als die Hälfte, hat aber deutlich höheres Risiko. Die drastische Zinserhöhung hat die Geschäftsgrundlage des Hauskredits verändert – zugunsten des Kreditnehmers, zulasten der Bank. Für die Bank ist der Kredit weniger wert als bei Vertragsabschluss, für den Kunden mehr.
Eine Bank, die eine zehnjährige Staatsanleihe mit 0,25 Prozent Zinskupon gekauft hat, muss heute aus demselben Grund eine kräftigen Wertverlust in ihre Bücher schreiben. Zu dem Preis, den die Bank damals bezahlt hat, würde heute niemand mehr eine solche Anleihe kaufen, deshalb bricht der Marktwert ein und reduziert das Eigenkapital der Bank. Die Silicon Valley Bank aus den USA lässt grüßen.
Anderes Beispiel: Eine Firma, die 2019 millionenschwer in die eigene Fabrik investiert hat, hat damals eine ganz andere Investitionsrechnung gemacht. Der Kredit war günstiger, die Opportunitätskosten kleiner. Hätte die Firma das Geld nicht investiert, sondern am Finanzmarkt angelegt, könnte sie damit dank der höheren Zinsen heute quasi risikolos drei Prozent Zinsen erwirtschaften, 2019 waren es null Prozent. Die Investition in die Fabrik muss also mindestens drei Prozent Rendite abschmeißen, um sich zu lohnen. Oder, anders gesehen: Die Rendite der Investitionen ist abzüglich der Opportunitätskosten um drei Prozent gefallen. Die Geschäftsgrundlage hat sich verändert.
Gleiches gilt für Lagerbestände. Wenn eine Firma ihr Geld investiert, um Lagerbestände aufzufüllen, dann bindet sie ihr Geld in Gütern. Alternativ hätte sie das Geld auch am Finanzmarkt angelegen und Zinsen kassieren können, daraus entstehen die erwähnten Opportunitätskosten. Je schneller sich die Zinsen verändern, desto schneller ändern sich die Opportunitätskosten. Und die sind Bestandteil vieler Firmenentscheidungen.
Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Bei Mietverträgen, Arbeitsverträgen, Einkaufsverträgen, Autofinanzierungen und so weiter.
Die große Illusion und das große Schweigen
Die Wirtschaft als Ganzes kann sich auf diese Änderung der Geschäftsgrundlage nicht vorbereiten, ohne ineffizient zu werden. Woher sollten Banken und Firmen 2019 wissen, dass Pandemie und Krieg die Preise katapultieren und die Europäische Zentralbank den Zins so schnell anhebt wie noch nie? Klar, zu einem gewissen Grad sind Änderungen einkalkuliert, aber eben keine historisch großen Änderungen. Banken kalkulieren einen Sicherheitspuffer für Zinsänderungsrisiken, längere Hauskredite sind deshalb teurer als kurze. Und: Der Puffer macht Kredite jeder Laufzeit teurer, als sie bei stabilem Zins sein müssten.
»Zinsänderungen von der Zentralbank sind also vorprogrammiertes Chaos für eine vertragsbasierte Wirtschaft und erzeugen immer Gewinner und Verlierer.«
Würden alle Teilnehmer in der Wirtschaft mit extremen Preis- und Zinsveränderungen kalkulieren, kämen kaum noch langfristige Verträge zustande oder eben nur mit extremen Preisaufschlägen. Genau die langfristigen Verträge und möglichst günstigen Konditionen sind es aber, die unter normalen Umständen Sicherheit und Effizienz bringen.
Übrigens ist es auch eine Illusion, dass sich eine Wirtschaft als Ganzes gegen solche Änderungen absichern kann. Natürlich gibt es spezielle Produkte am Finanzmarkt, mit denen eine Partei auf steigende Zinsen oder Preise wetten kann, um im Fall der Fälle damit die Verluste aus dem langfristigen Vertrag zu kompensieren. Die Verluste sind dann aber nicht weg, sondern nur woanders. All diese Geschäfte sind Nullsummenspiele. Jede Wette braucht zwei Parteien, braucht Gewinner und Verlierer. Eine einzelne Partei kann versuchen, ihr Risiko mit Gegengeschäften und Wetten zu minimieren, aber die Wirtschaft als Ganzes natürlich nicht. Wie auch? Es können ja auch nicht alle am Pokertisch gewinnen.
Zinsänderungen von der Zentralbank sind also vorprogrammiertes Chaos für eine vertragsbasierte Wirtschaft und erzeugen immer Gewinner und Verlierer. Diese Unsicherheit ist ein externer Schock, den die Zentralbanken allen Marktteilnehmern zufügt. Je steiler die Zinserhöhung, desto drastischer die Auswirkung, desto größer das Risiko für Verlierer. Die Silicon Valley Bank lässt noch mal grüßen.
Im öffentlichen Diskurs gelten Zinsen als Beruhigungspille für eine überdrehte Wirtschaft mit steigenden Preisen. Das Gegenteil ist aber wahr: Zinsänderungen erzeugen ihr eigenes Chaos, zusätzlich (!) zum Chaos durch die Inflation. Chaos wird also mit Chaos bekämpft. Wie soll das gutgehen? Und wann fangen Ökonomen und Journalisten an, das zu diskutieren?
Hey Maurice, so langsam klingst du schon wie Heiner Flassbeck, wenn du über diese ökonomische Idiotie schreibst. 😅
Ich fühle jedenfalls mit dir. ^^
Mal eine Frage aus theoretischem Interesse: Könnten so Otto-Normal-Bürger wie ich die EZB verklagen, weil Sie Wirtschaftliche Schäden zu verantworten haben? Nachdem was ich von dir lerne kann man die Kausalitäten ja belegen.
Richtig ist, die Zinspolitik der Zentralbank ist völlig ungeeignet, die heutige angebotsbedingte Inflation zu bekämpfen.
Zinsveränderungen der ZB verändern den Preis für „ZB-Buchgeld, genannt Reserven“, nicht jedoch für Geschäftsbanken-Buchgeld, genannt Giralgeld.
Keine Geschäftsbank muss mit diesem Grund ihre Zinsen für Geschäftsbanken-Buchgeld verändern. Sie benutzen die Aussage der ZB aber gern zu ihren Gunsten und tun so als ob die ZB-Zinsen ein „zwingender Grund“ für ihre Anpassung sind!
Dass die Zinsveränderung der ZB nicht zwingend ist, kann jeder Normalbürger an seinem Tagesgeld-Konto ablesen. Wer bekommt heute dafür 3,25% Zinsen, welches die ZB ihren Kunden vergütet?
Diese Ungenauigkeit in deinem Beitrag (Reserven sind kein Giralgeld) führt wahrscheinlich unbeabsichtigt zur weiteren Verwirrung zum Thema Geldsystem.
Auch dein Beispiel mit der 10-jähringen Staatsanleihe ist nur bedingt zutreffend. Der von dir beschriebene „Wertverlust“ würde für jedes normale Unternehmen zutreffen aber nicht für eine Geschäftsbank. Sie haben die Wahlmöglichkeit gekaufte Wertpapiere zum Anschaffungspreis oder zum Marktpreis in der Bilanz aufzunehmen. Eine nach der großen Krise 2008/2009 neu ausgedachte Variante der Bankenlobby. Eine Sauerei erster Güte!
Damit sind die von dir beschriebenen Bilanzverluste einer Bank nicht mehr gegeben!
Ob diese Bewertungsmöglichkeit in den USA auch gilt, weis ich nicht. Die SVB ist aber daran nicht Pleite gegangen! Sie hat mit günstigen Einlage-Zinsen Kunden von anderen Banken dazu ermuntert, ihre Gelder bei der SVB einzulegen womit die SVB im Rahmen des Zahlungsverkehrs die Reserven anderer Banken auf ihrem Konto gutgeschrieben bekam. Die Kunden bekamen dabei aber nur das von der SVB selbstgeschöpfte Giralgeld auf ihrem SVB-Konto gutgeschrieben.
Den Reserven-Zufluss hat die SVB dann zum Kauf von Staatsanleihen oder Wertpapieren von anderen Banken genutzt. Nur dafür waren die zugeflossenen Reserven nutzbar. Brötchen für ihre Manager konnte sie dafür nicht kaufen!
Als jetzt ihre „neuen Kunden“ ihre Gelder wieder abgezogen haben, fehlten der SVB die „Reserven“ für die Rückzahlung und dadurch ist die SVB wegen fehlender Liquidität (an Reserven und nicht an Giralgeld) Pleite gegangen. Auch ihre Aktiva in Form von Wertpapieren waren zu Marktpreisen nicht mehr das Wert wie zum Kaufzeitpunkt und erzeugten zum Bilanzstichtag wenn meine oben beschriebene Regel für USA-Banken nicht gilt einen weiteren Pleite-Grund nämlich Überschuldung.
Auch dein Unternehmensbeispiel ist konstruiert und hat mit der Zinspolitik der ZB wenig zu tun! Wenn ein Unternehmen Geld (sicherlich Giralgeld) für eine Investition verfügbar hat steht sie immer vor der Frage, dieses Geld für Investition auszugeben mit einer zum Zeitpunkt der Investition zu erwartenden Rendite oder für Finanzmarkt-Aktivitäten zu verwenden. Die Unternehmen sind bereits seit Jahren zu Sparern geworden, weil sie sich mehr für Finanzmarkt-Aktivitäten entschieden haben und heute durch die Veränderung des Zinsniveaus alle scheinbar gekniffen sind!
Tatsache ist, dass die ZB-Zinspolitik eigentlich bedeutungslos ist, wenn sich die Geschäftsbanken selbige nicht zu eigenem Nutzen argumentativ verwenden würden.
Die Zinsen, die Geschäftsbanken an die ZB zahlen oder erhalten, sind nun mal eine andere Geldsorte als die Zinsen, welche sie selber verlangen oder zahlen. Dieser Sachverhalt wird in deinem Beitrag nicht herausgestellt und macht einen Teil deiner Aussagen fragwürdig.