Bürokratieabbau? Dann so!
Im Wahlkampf fordern alle Politiker weniger Bürokratie. Hier ein 10-Punkte-Plan gegen Bürokratie und Bullshitjobs
Niemand mag Bürokratie. Sie hat einen schlechten Ruf: lästig, lähmend, leidig. Kein Wunder, dass nahezu alle Politiker im Wahlkampf damit punkten wollen, Bürokratie abzubauen. FDP-Chef Christian Lindner schafft in Interviews keine zwei Minuten, ohne „Bürokratieabbau“ zu sagen.
Ein Irrtum ist allerdings, die kriselnde Konjunktur der Bürokratie anzulasten. Ja, es gibt unnötige Bürokratie in Deutschland. Aber nein, sie ist unter der Ampel nicht messbar gewachsen. Und sie erklärt auch nicht, warum Deutschland das zweite Jahr in Folge geschrumpft ist – und in Sachen Wirtschaftsleistung noch immer auf dem Niveau von 2019 verharrt. Wer das sagt, bedient sich fauler Ausreden.
Das beweist ein Blick auf den Bürokratiekostenindex. Hiermit messen die Statistiker, wie viel Aufwand den Firmen durch Anträge, Meldungen, Nachweisen und ähnliches entsteht. Und siehe da: Es gibt heute weniger Bürokratie als in der Vergangenheit und auch weniger als zum Beginn der Ampel-Legislatur.
Durch verpflichtende E-Rechnungen und höhere Schwellenwerte im Handelsbilanzrecht hat die Ampel sogar Bürokratie messbar abgebaut. Wohlgemerkt: Der sichtbare Anstieg im letzten Jahr ist auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) der EU zurückzuführen.
Bürokratieabbau, ein trojanisches Pferd
Wenn Liberale wie Lindner Bürokratieabbau fordern, meinen sie eigentlich Deregulierung. Typischerweise zugunsten der Arbeitgeber und zulasten der Arbeitnehmer – oder der Umwelt. Bauvorschriften, Umweltauflagen, Lieferkettenkontrolle, Arbeitsschutz: all das soll reduziert oder abgeschafft werden. Bürokratieabbau entpuppt sich so als trojanisches Pferd für Klientelpolitik!
Man kann das trojanische Pferd aber auch fortschrittlich aufzäumen. Wirklich unnötige Bürokratie und vor allem Bullshitjobs können wir uns in einer alternden Gesellschaft, die dazu noch ihre Wirtschaft von braun auf grün umstellen muss, immer weniger leisten.
Spätestens, wenn die Babyboomer bald scharenweise in Rente gehen, gehen Wissen und Arbeitskraft verloren. Gleichzeitig brauchen die großen öffentlichen Aufgaben viel Personal. Die Energiewende braucht Handwerker und Ingenieure; die Verkehrswende Lokführer und Busfahrer; die Bildungsoffensive Lehrer und Erzieher. Schon heute sind viele dieser Berufe unterbesetzt. Wir priorisieren also heute falsch, wofür wir die Köpfe und Hände dieses Landes einsetzen. Was, wenn die auch noch knapp werden?
Nun: was knapp ist, sollte man nicht verschwenden. Im Gegenteil: Man sollte behutsam darauf aufpassen, man sollte es schützen – und gut einteilen. Salopp gesagt: Wenn Fachkräfte knapp werden, müssen wir sie rationieren. Mindestens für übergeordnete Ziele wie Klima und Bildung. Das passiert bisher aber nicht, und darüber wird auch nicht gesprochen. Stattdessen werden Fachkräfte millionenfach verschwendet.
10-Punkte-Plan
Deshalb: hier ein 10-Punkte-Plan gegen Bürokratie und Bullshitjobs.
Bagatellsteuern abschaffen. Zum Beispiel: Kaffeesteuer, Schaumweinsteuer, Biersteuer, Hundesteuer, Pferdesteuer, Fischereisteuer, Zweitwohnungsteuer, Vergnügungssteuer, Hotelsteuer, Feuerschutzsteuer … und alles, was man noch so findet. Sie alle erzeugen viel Aufwand – beim Staat und in den Betrieben –, bringen aber wenig Einnahmen. Deren Daseinsberechtigung wird meistens mit einer Lenkungswirkung verteidigt. Davon sollte man sich lösen. Kaffee zum Beispiel ist längst ein gängiges Alltagsprodukt, anders als bei Einführung der Kaffeesteuer 1781. Sie lenkt nicht, sie verteuert nur – und zwar 2,19 Euro pro Kilogramm Röstkaffee und 4,78 Euro pro Kilogramm löslicher Kaffee. Ganz grundsätzlich gilt aber: Ein Staat, der seinen großen Aufgaben in Sachen Klima, Bildung, Gesundheit und Infrastruktur nicht gerecht wird, braucht nicht im „Klein-Klein“ zu lenken. Die ganzen Buchhalter, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Beamten sind woanders besser eingesetzt. Nebeneffekt: die Güter werden günstiger, die Kaufkraft steigt – das ist gut für die Konjunktur.
Freibeträge bei der Einkommensteuer erhöhen, um die schiere Anzahl von Kleinststeuerfällen zu reduzieren. Bei der Einkommensteuer etwa die Grenze von derzeit rund 12.000 auf 25.000 Euro anheben. Dazu den Arbeitnehmerpauschbetrag von derzeit 1.230 Euro auf 4.000 Euro erhöhen. Damit würden rund 20 Millionen Arbeitnehmer von der lästigen Pflicht einer Steuererklärung (samt Belege sammeln) befreit, weil kaum jemand höhere Werbungskosten hat. Da Spitzeneinkommen von höheren Freibeträgen mehr profitieren als Normalverdiener, könnte man zur Kompensation den Spitzensteuersatz anheben (und später greifen lassen).
Auch bei der Erbschaftsteuer könnten die Freibeträge verdoppelt oder verdreifacht werden, um Erben aus der Mittelschicht von der Steuer zu befreien und Beamte zu entlasten. Da die Freibeträge seit 2009 nicht mehr angepasst wurden, aber die Preise seitdem gestiegen sind – vor allem für Immobilien – gibt es immer mehr kleinere Erbschaftsteuerfälle. Da das große Geld eh bei Hochvermögenden zu holen ist, würde eine Anpassung kaum Mindereinnahmen bringen. Im Gegenzug könnten die überdimensionierten Ausnahmen für Betriebsvermögen abgebaut werden, um die Einnahmen aus der Erbschaftsteuer zu erhöhen. Die Ampel hatte darüber in der Legislatur debattiert, sich aber nicht auf eine Reform einigen können – leider.
Kleinunternehmer großzügig von der Umsatz- und Gewerbesteuer befreien. Heute gilt die Kleinunternehmerregelung nur, wenn man im laufenden Jahr weniger als 100.000 Euro Umsatz erwartet und im Vorjahr weniger als 25.000 Umsatz hatte. Früher waren es sogar nur 50.000 Euro im laufenden und 22.000 Euro im vorherigen Jahr; das hat die Ampel schon nach oben angepasst. Um Kleinunternehmer, Finanzämter und Steuerberater aber weiter zu entlasten, sollten die Grenzen weiter nach oben. Etwa auf 150.000 im laufenden und 100.000 Euro im vorherigen Jahr. Zudem sollte der Freibetrag bei der Gewerbesteuer für Einzelunternehmer und Personengesellschaften von 24.500 auf 100.000 Euro angehoben werden.
Auch bei Immobilien lassen sich Steuerfälle mit Freibeträgen vermeiden. Etwa durch einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer für die erstgekaufte Immobilie. Der könnte zum Beispiel bei 500.000 Euro liegen. Damit würden viele Eigentumswohnungen oder älteren Häuser für Familien steuerfrei – eine Entlastung für Mittelschicht wie Finanzämter. Idealerweise ließe sich das kombinieren mit einem progressiven Steuertarif (hier erklärt).
Bürgergeldsatz pauschal anheben, Bildungs- und Teilhabepaket ausdünnen. Für Klassenfahrten, Vereinsmitgliedschaften und Einschulungskosten können Bürgergeldbezieher zusätzliche Gelder für ihre Kinder beantragen. Würde man diese Kosten großzügig pauschaliert in den Regelsatz integrieren, könnte das Bildungs- und Teilhabepaket auf echte Sonderfälle reduziert und die Antragsbürokratie reduziert werden. Außerdem sollte im Bürgergeld die Freigrenze für Vermögensprüfungen von derzeit 40.000 Euro im ersten Jahr auf 400.000 Euro angepasst werden. Der Betrag ist symbolisch, weil Vermögende im Bürgergeld eine Ausnahme sind. Die Vermögensprüfungen wären damit abgeschafft.
Aus 93 Krankenkassen eine machen. Echter Wettbewerb besteht ohnehin nicht, weil der Staat definiert, was wie, wem erstattet wird – und was nicht. Eine große Verwaltung ist am Ende kleiner und effizienter als 93 einzelne Verwaltungen. Obendrein würde man 92 Marketingabteilungen einsparen und Verbraucher nicht mehr intransparente Policen vergleichen müssen. Win-Win.
ÖPNV ticketfrei und gratis machen. Das Motto: einfach einsteigen. Null statt 48 Euro. Kein-Ticket statt Deutschland-Ticket. Nicht nur würde der ÖPNV attraktiver, sondern auch die ganze Ticketinfrastruktur gespart. Die ganzen Schalter, die aufgestellt, gewartet, programmiert und betreut werden müssen; die Handwerker, die Ingenieure, die IT-Spezialisten, die damit zu tun haben; die Service-Mitarbeiter, die verzweifelten Kunden beim Ticketkauf helfen müssen; und die ganzen Ticketkontrolleure. Dafür müsste man bundesweit 15-20 Milliarden pro Jahr zusätzlich ausgeben, spart aber wertvolle Ressourcen. Angesichts von Klimakrise und alternder Gesellschaft: No-Brainer.
Löhne im öffentlichen Dienst anheben. Der Staat konkurriert mit der Privatwirtschaft um Arbeitskräfte. Pfleger, Erzieher, Lehrer, Busfahrer: All diese Jobs müssen gut besetzt sein, um öffentliche Daseinsvorsorge am Laufen zu halten. Logisch also, diese Jobs massiv aufzuwerten, mit mehr Geld, mehr Ansehen und besseren Arbeitsbedingungen. Da schon längst Mangel herrscht, sollten große Imagekampagnen und Quereinsteiger-Programme mit symbolisch hohen Bonuszahlungen auf den Weg gebracht werden.
Das Handwerk aufwerten. Auch hier braucht es eine Imagekampagne und Anreize, damit mehr Menschen wieder eine klassische Handwerksausbildung machen. Berufsschulen müssen entsprechend modernisiert werden. Warum nicht 5.000 Euro staatlichen Bonus für Absolventen einer handwerklichen Ausbildung? Warum nicht Betriebe ab einer bestimmten Größe zur Ausbildung junger Leute verpflichten? Warum nicht als Staat in großem Stil selbst in den wichtigsten Gewerken ausbilden und den Unternehmen dafür eine Ausbildungsabgabe aufdrücken? Überspitzt formuliert: Wir müssen Handwerker mobilisieren, um den Krieg gegen die Erderwärmung zu gewinnen.
Das gefällt mir fast alles sehr gut, Ich wähle dich! 😎✅️🙏
Allerdings beim kostenlosen ÖPNV sehe ich doch das Risiko einer stärkeren Verwahrlosung, wenn es den Leuten weniger bis nichts wert ist. Das reduziert bei vielen die Wertschätzung.
Und zudem sollte noch ein Kostenanteil bei Bürgern bleiben, die den ÖPNV stark nutzen und dafür keine Auto-Kosten haben müssen - der Fairnes und Gleichbehandlung halber.
Aber ja, definitv keine kostendeckenden oder gar gewinnbringenden Presie für den ÖPNV!
Top. Wenn es diese zehn Punkte zu wählen gäbe, dann wäre dieser Partei meine Stimme sicher.
Punkt 8 ist prinzipiell toll, aber die Leute auf dem Land hätten da quasi nichts davon.