In Japan fallen die Preise, ganz ohne Zinserhöhung
Wieso Japan den Preisschock trotz Minuszinsen und Rekordschulden bewältigt – und so EZB wie Mainstreamökonomen entlarvt
Japan ist seit dreißig Jahren ein unlösbares Puzzle für Mainstreamökonomen. 250 Prozent Staatsschulden, billionenschwere Anleihekaufprogramme, Minuszinsen, aber keine Inflation. Das sorgt für Knoten in den Köpfen und lässt alle gängigen Modelle der Mainstreamökonomen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Und jetzt wird es noch schlimmer! Denn Japan entledigt sich gerade der Inflation, anders als Europa oder die USA, ganz ohne staatlichen Sparkurs und Zinserhöhungen.
Gut, streng genommen war das auch in Japan keine klassische Inflation. Wie Deutschland muss Japan viel Energie importieren (zum Beispiel Kohle aus China oder Öl aus den USA und Saudi Arabien) und war deshalb einem Energiepreisschock ausgesetzt. Japans Importpreise explodierten nach Russlands Invasion, und lagen im Herbst 2022 rund 54 Prozent über dem Niveau von vor dem Krieg.
Neben den hohen Weltmarktpreisen kam für Japan erschwerend hinzu, dass der japanische Yen gegen den US-Dollar (minus 20 Prozent) und den chinesischen Yuan (minus zehn Prozent) an Wert verloren hat – ausgerechnet gegenüber den zwei wichtigsten Handelspartnern. Die Folge: In Yen gerechnet sind die ohnehin teureren Importe nochmal teurer geworden.
Wie auch in Deutschland führten die höheren Importpreise nicht eins zu eins zu höheren Preisen im Supermarkt. Deshalb zur Vollständigkeit: Bei den japanischen Produzentenpreisen ging es in der Spitze bis zu neun Prozent nach oben, bei den Konsumentenpreisen (die wir gemeinhin mit Inflationsrate bezeichnen) um vier Prozent, also deutlich weniger als in Deutschland mit bis zu zehn Prozent in der Spitze.
Preisschock verschwindet
Wie auch in Deutschland entspannt sich in Japan die Lage mittlerweile, auch wenn das Leben noch nicht so günstig ist wie vor dem Krieg. Die Importpreise sind seit ihrem Hochpunkt um zehn Prozent gefallen, die Inflationsrate lag zuletzt nur noch bei 2,8 Prozent, Gas und Strom sind für Verbraucher 21 Prozent günstiger als vor einem Jahr, und im Vergleich zum Oktober waren die Preise im November um 0,1 Prozent gefallen. Sprich: Die Aufwärtsdynamik ist gebrochen, es geht langsam nach unten.
Interessant ist, wie unterschiedlich die japanische Zentralbank handelt; und noch viel mehr: wie unterschiedlich die japanische Zentralbank über ihre eigene Politik redet. Während EZB-Chefin Lagarde nicht zwischen Inflation und Preisschock unterscheidet, klingt Japans Zentralbankchef, Kazuo Ueda, deutlich differenzierter. Er spricht von einem »Schock gestiegener Importpreise«, der »das Preissetzungsverhalten der Firmen« verändert habe. Die entscheidende Frage sei, ob sich daraus eine Lohnpreisspirale entwickele. Darauf achte die BOJ sehr genau. Weil man aber nicht damit rechne, habe man auch nicht die Zinsen angehoben. Hört, hört!
Außerdem führte Ueda in seiner jüngsten Rede aus, dass der Preisschock längst auf dem Rückzug sei:
»Der erste bemerkenswerte Punkt ist, dass die jährliche Veränderungsrate der Importpreise, die für den jüngsten Preisanstieg verantwortlich waren, seit etwa dem Frühjahr dieses Jahres negativ ist und dass sich der Anstieg der Erzeugerpreise in letzter Zeit auf etwa 0% verlangsamt hat. Betrachtet man den Verbraucherpreisindex, so hat sich der Preisanstieg bei Gütern wie Nahrungsmitteln und Waren des täglichen Bedarfs verlangsamt. In Anbetracht dieser Entwicklungen dürften die Auswirkungen des früheren Anstiegs der Importpreise, der die Gesamtpreise in die Höhe getrieben hat, allmählich nachlassen, auch wenn es noch einige Zeit dauern wird.« (Aus dem Japanischen übersetzt)
Waren die Zinserhöhungen der EZB überhaupt nötig?
Während die EZB den Zins in etwas mehr als einem Jahr von null Komma null auf 4,5 Prozent hochgepeitscht hat, hat die japanische Zentralbank Bank of Japan (BOJ) ihren Zins bei minus 0,1 Prozent gelassen. Und die japanische Regierung sogar kräftig neue Schulden gemacht. Das dritte Jahr in Folge schloss die Regierung 2023 mit einem Staatsdefizit von über sechs Prozent. Zum Vergleich: Deutschlands Defizit war nicht einmal halb so groß, dieses Jahr sogar nur ein Viertel davon. Dafür wächst Japans Wirtschaft, während die deutsche schrumpft, und hat eine niedrigere Arbeitslosenquote.
Die Frage stellt sich also: Hätte die EZB nicht wie die BOJ auf den Zinshammer verzichten können? Offensichtlich geht es ja auch anders. Und mit weniger Nebenwirkungen.
Die hohen Energiepreise sind nicht wegen der hohen Zinsen gefallen, sondern weil die Panik aus Sorge vor Energiemangel aus den Energiemärkten verschwunden ist. Dafür machen die hohen Zinsen an anderer Stelle Probleme. Die Kreditvergabe an private Firmen ist massiv eingebrochen, die Baubranche schwächelt und Kreditnehmer mit variablen Verträgen laufen in eine Schuldenfalle, Stichwort: Studis mit KFW-Krediten.
Immer wieder rechtfertigt die EZB ihren Zinshammer damit, dass die Entscheidungen ja datengestützt getroffen würden. Welche Daten das sein sollen, erklärt die EZB aber nicht. Auch nicht, wie sie die (uns unbekannten) Daten interpretiert; geschweige denn, welche Nebenwirkungen sie bei ihren Zinsentscheidungen mit einkalkuliert. All das habe ich im unten verlinkten Artikel schon einmal kommentiert.
Verfolgt man, wie offen der japanische Zentralbankchef über seine Politik redet und wie differenziert er seine Entscheidungen erklärt, wünscht man sich, die EZB täte es ihm gleich. Den Fall “Japans Minuszinsen gegen den Energiepreisschock” heften wir derweil für Mainstreamökonomen ab unter “Akte XY ungelöst”.
Außerdem passend: dieser alte Artikel zur japanischen Wirtschaftspolitik.
Ausgezeichneter Artikel. Aber wer liest ihn Lagarde, Schnabel & Co vor?
Zinspolitik der EZB wird als direkter Inflationstreiber statistisch nicht erfasst - methodischer Fehler bei der Inflationsberechnung?
In zehn aufeinanderfolgenden Schritten hat die EZB den Leitzins seit Juli 2022 auf mittlerweile 4,50 % angehoben. Damit glaubt die EZB, auf die drastischen Preissteigerungen bei vielen Verbrauchsgütern durch die Gas- und Rohölknappheit in 2022 wegen der russischen Invasion in die Ukraine reagieren zu können. Die Überlegung dahinter ist, die Kosten für Kredite so zu erhöhen, dass Unternehmen sich bei Investitionen zurückhalten und Privatpersonen weniger Produkte und Dienstleistungen kaufen. Die dann sinkende Nachfrage soll den Preisdruck verringern und Preise stabil halten oder sogar reduzieren.
Im Sinne dieser Kausalkette scheinen die in ihrem Tempo historisch einmaligen Zinserhöhungen ihre beabsichtigte Wirkung zu entfalten - allerdings auch ausgerechnet bei solchen Investitionen, die für eine Senkung der Energiepreise dringend benötigt werden. So hat der schwedische Energieversorger Vattenfall sein 1,4-Gigawatt-Windpark-Projekt in der Nordsee u.a. wegen gestiegener Kapitalkosten gestoppt. Die Finanzierung solcher Vorhaben ist einfach zu teuer geworden. Gleiches gilt auch für viele anstehende energetische Sanierungsmaßnahmen im Gebäudesektor.
Die ökonomische Sinnhaftigkeit, auf eine durch einen historischen Angebotsschock induzierte Preissteigerung mit einem nachfragereduzierenden Zinsschock zu reagieren, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Ökonomen wie Maurice Höfgen weisen zu Recht auf die unzureichende Differenzierung zwischen Preisschock und wirklicher Inflation in der Diskussion hin. In seinem Buch „Teuer!“ pointiert er: „Hohe Preise bekämpft man pauschal mit hohen Zinsen, so das scheinbar allgemeingültige Prinzip, das nicht hinterfragt wird.“ Aktuell reibt sich die Politik erstaunt die Augen über konjunkturelle Einbrüche, obwohl genau das der in Kauf genommene Kollateralschaden der Zinspolitik ist - und dieses sogar mit Ansage.
Die steigenden Kreditzinsen führen aber auch zu einem massiven „Stottern“ des bislang zuverlässigen Wachstumsmotors Bauwirtschaft. Die Vergabe von neuen Immobilienkrediten ist mit Beginn der Zinserhöhungen regelrecht zusammengebrochen: „Der Feind der Immobilien ist der Zins“ titelte die FAZ am 31.08.23 und beschreibt damit die Sicht von Investoren auf diesen für unseren Wohlstand wichtigen Sektor. So sind die Zinsen für einen Hauskredit mit 10jähriger Zinsbindung seit Januar 2022 um über 460%(!) gestiegen. Damit liegt der Anstieg um ein Vielfaches höher als z.B. die Nettokaltmiete mit 3,5% oder bei anderen Preisen, die mit den Verbraucherpreisindizes (VPI) gemessen werden. Die Top 3 im gleichen Zeitraum sind übrigens: Zucker +72%, Pauschalreisen im Inland +68% und an der Spitze Kohlebriketts mit + 91%. Aber mit einem Anteil von nur 0,001% bei der Berechnung der Inflationsrate fallen letztere kaum ins Gewicht.
Kein Wunder also, dass sich die ca. 6,5 Mio. Haushalte mit Wohnungsbaukrediten große Sorgen über die dramatischen Steigerungen ihrer Finanzierungskosten machen. Bei vielen, vor allem jungen Familien, haben die niedrigen Kreditzinsen häufig die teuren Mieten abgelöst – ein im Entscheidungszeitpunkt vor einigen Jahren absolut rationales und tragfähiges Kalkül. Mittlerweile grassieren Existenzängste bei vielen Besitzern, wie in den Medien aktuell mehrfach berichtet wird. Denn anders als bei sonstigen Ausgabenpositionen, wie Energie oder Nahrung, kann man diese nur selten reduzieren (z.B. Oliven- statt Sonnenblumenöl).
Welchen Anteil und damit Bedeutung haben aber nun Mieten und Zinsen für die Finanzierung von selbst genutztem Wohneigentum bei der Berechnung der Inflationsrate?
Für die Mieten ist das eindeutig: Sie gehen mit ca. 18% als mit Abstand größte Position in das so genannte Wägungsschema für die Berechnung der Inflationsrate ein. Zinsen für Immobilienkredite und auch alle anderen Verbraucherkredite werden dagegen überhaupt nicht erfasst und finden damit keinerlei Berücksichtigung in der Inflationsrate!
Wenn also die Verzinsung der insgesamt ca. 1,5 Billionen € Immobilienkredite in Deutschland in naher Zukunft auch durch Anschlussfinanzierungen im Durchschnitt über 400% steigt, müsste die individuelle Inflationsrate eines typischen (Neu-)Immobilienbesitzers weit über der jetzigen Statistik liegen. Diesen Sachverhalt kennen übrigens die weitaus meisten Volkswirte nicht. Man muss sich auch erst die Mühe machen, in den 275 Einzelpositionen danach zu suchen. Genau genommen sind es sogar 687 Güter und Dienstleistungen auf der untersten Erfassungsebene, wie z.B. „Flugticket, Mittelamerika, Business“ mit einem Anteil von 0,2% der Inflationsrate.
Warum aber werden die Verbraucherzinsen nicht in den VPI und damit in die Inflationsrate aufgenommen? Die offizielle Begründung ist, dass Zinsen und Kreditkosten als Finanzierungskosten betrachtet und nicht als Konsumausgaben klassifiziert werden. Tatsächlich gibt es sogar ein EU-seitiges Verbot für ihre Aufnahme in den Index.
Aus meiner Sicht ist dieses Argument jedoch ökonomisch nicht haltbar: Sowohl Mietzinsen als auch Kreditzinsen sind Zahlungen für die zeitlich begrenzte Nutzung von Ressourcen. Bei Mietzinsen zahlt man für die Nutzung einer Immobilie, während man bei Kreditzinsen Ausgaben für die Nutzung von geliehenem Geld für Wohnzwecke tätigt. Mieten und Zinsen für Kredite können also durchaus äquivalent betrachtet werden. Für eine Berücksichtigung weiterer Verbraucherkredite, wie Raten- oder Überziehungskredite, kann analog argumentiert werden, da die Banken mit solchen Produkten das immaterielle Gut Zeitpräferenz eines jetzigen Konsums gegenüber der Zukunft befriedigen.
Aus diesen Gründen plädiere ich für eine Aufnahme der Preise / Zinssätze für Verbraucherkredite (Immobilienkredite, Ratenkredite, Dispositionskredite) in den Warenkorb und damit in die VPI-Berechnung, auch wenn dieses mit methodischen Herausforderungen verbunden ist: Bei Zinsen für das Neugeschäft ist das noch relativ einfach. Im Bestandsgeschäft mit erst in der Zukunft auslaufenden Zinsbindungen sowie Anschlussfinanzierungen müssen dagegen Gewichtungen nach ihrem Volumen vorgenommen werden. Das wird aber auch schon derzeit bei anderen Positionen mit länger laufenden Verträgen, wie etwa beim Erdgas, gemacht.
Das Ziel sollte sein, die durch die Zinspolitik der EZB direkt verursachten Preiserhöhungen auszuweisen und transparent zu machen, damit man die Konsequenzen sowie Kollateralschaden in Öffentlichkeit und Politik datengestützt diskutieren kann.
Der Autor hat Mitte der 90er Jahre mit dem Thema „Elastizitätsorientierte Zinsrisikosteuerung in Kreditinstituten“ promoviert und im Bankcontrolling jahrelang als Berater gearbeitet. Seit 2007 ist er als Professor für Business Intelligence und Analytics an der FH Münster tätig.