Ein Schröder-Jünger für Wagenknecht
Wagenknecht macht mit Thomas Geisel einen strammen Agenda-Anhänger zum Spitzenkandidaten. Ausgerecht zur Europawahl?
Sie hat ernst gemacht. Seit gestern gibt es die Partei Bündnis Sahra Wagenknecht - Vernunft und Gerechtigkeit. Ein Programm gibt es allerdings noch nicht, das solle erst nach und nach erarbeitet werden, kündigte die frisch gebackene Parteivorsitzende, Sahra Wagenknecht herself, auf der gestrigen Pressekonferenz an. Bis es ein Programm gibt, lebt die Partei von Personenkult. Davon hat Wagenknecht immerhin genug.
Interessant ist aber, welches Spitzenpersonal BSW für die Europawahl aufstellt. Immerhin die erste Wahl, zu der BSW antreten wird und von deren Ergebnis die weiteren Erfolgsaussichten der Partei abhängen. Eine strategisch wichtige Wahl also für BSW.
De Masi zurück in der Spitzenpolitik
Den ersten Wahlerfolg einholen soll ein Duo: Fabio De Masi und Thomas Geisel. De Masi war die naheliegende Option von beiden. Er ist ein alter Weggefährte Wagenknechts, hatte damals schon Aufstehen mit ihr initiiert, hat schon eine Legislatur als Abgeordneter im EU-Parlament hinter sich und verzichtete 2021 auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag.1
De Masi hat geschafft, was viele Linke nicht schaffen: Sich Anerkennung über die eigenen Parteigrenzen hinaus zu erarbeiten. Die hat er sich auch redlich verdient, nicht zuletzt für seine Aufklärung zu Cum-Ex, Wirecard und anderen Finanzskandalen. Selbst diejenigen, die De Masi für sein BSW-Engagement kritisieren, werden sich zumindest eingestehen müssen: Der Mann ist als Wadenbeißer bei den Korrupten und Mächtigen ein Segen für jedes Parlament – und damit für die Demokratie. Außerdem steht De Masi in Sachen Wirtschaft und Finanzen im Thema wie kein anderer relevanter Politiker und verfolgt einen progressiven Kurs, für mehr öffentlichen Investitionen und gerechte Steuerpolitik. Auch ist er ein Gewinn für alle kommenden Talkshows zum Thema Inflation, Schulden oder Eurokrise. Wer sich mit seinen sonstigen Positionen auseinandersetzt, sieht schnell: De Masi sieht sich als Anwalt derer, die keine Lobby im Parlament haben. Ein Malocher für Malocher, wenn man so will.
Überraschung: Der Agenda-Prediger
Die echte Überraschung auf dem Personaltableau ist der Mann neben De Masi: Thomas Geisel, bis 2020 Oberbürgermeister in Düsseldorf und 40 Jahre lang SPD-Mitglied. Seit 40 Jahren pendelt er zwischen Politik, Behörden und Privatwirtschaft. Ein Mann, den man außerhalb von Düsseldorf nicht kennt, der in der SPD bislang keine größere Rolle gespielt hat, aber jetzt die letzte Autobahnauffahrt für die Politkarriere nehmen will?
Die Pressekonferenz und der Abschiedsbrief von Geisel lassen tief blicken. Er stellt das individuelle Grundrecht auf Asyl in Frage, ebenso das Verbot für Verbrennermotoren, meckert über »soziale Wohltaten auf Pump« und trauert dem Agenda-2010-Prinzip des »Förderns und Forderns« hinterher. Garniert wurde das ganze mit neoliberalem Stammtischgeschwätz von »überbordender Bürokratie« und »gravierendem Arbeitskräftemangel«. So viel zu Vernunft und Gerechtigkeit.
Seine politische Vorbilder sind schnell ausgemacht. Geisel ist ein Jünger von Gerhard Schröder. Er bedauert, dass Schröder heute in der SPD der »Hauptfeind« zu sein scheine. Und hat noch im April letzten Jahres Loblieder auf die Agenda 2010 gesungen. Genau die Agenda, die Arbeit billig und prekär gemacht hat, Arbeitslosigkeit unerträglich, und Deutschland zum größten Niedriglohnsektor Europas.
Die Agenda habe den damals kranken Mann Europas gesundet, bilanziert Geisel in seiner »Agenda für einen sozialdemokratischen Aufbruch«. Das sei »nur durch grundlegende und auch schmerzhafte Reformen« möglich gewesen. Weiter schreibt er: »Gerhard Schröders Reformen der Agenda 2010 sorgten dafür, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich gesenkt und das Land wieder auf Wachstumskurs gebracht wurde«. Geisels Forderung lautet deshalb so:
»Das sozialstaatliche Gleichgewicht zwischen Fördern und Fordern muss wieder so kalibriert werden, dass kein Anreiz geschaffen wird, sich staatlich alimentieren zu lassen, obwohl man grundsätzlich in der Lage wäre, selbst zur gesellschaftlichen Wertschöpfung und damit zum eigenen Unterhalt beizutragen«.
Streit ist vorprogrammiert
Was Geisel schreibt, ist nicht nur ignorant gegenüber all den Existenzen, die die Agenda 2010 zerstört hat, sondern auch ökonomischer Irrsinn. Die Agenda hat in Deutschland nur die Exportindustrie boomen lassen, aber die Binnenwirtschaft mit stagnierenden Löhnen abgewürgt. Ohne Agenda wäre Deutschland nicht Exportweltmeister geworden. Das heißt aber auch: Ohne Agenda hätte Deutschland die französische und italienische Industrie niemals ins Verderben konkurriert. Die Agenda war der größte Angriff auf den deutschen Sozialstaat, der größte Verrat an der deutschen Arbeiterklasse und die größte Katastrophe für die europäische Wirtschaft. Noch mehr: Die deutsche Agenda 2010 hat den Rechtsruck in Frankreich und Italien begünstigt, weil deren Deindustrialisierung die Rechten stark machten. In diesem Artikel habe ich die Zusammenhänge genauer erklärt.
Und dieser Mann soll BSW zur Europawahl anführen? Wagenknecht macht den Bock zum Gärtner. Geisel steht weder für Vernunft noch für Gerechtigkeit. Das müsste Wagenknecht auch selbst wissen, hat sie doch die Agenda 2010 und deren Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft selbst oft kritisiert. Die Wahl von Geisel trägt gleich eine doppelte Ironie. Nicht nur hat Oskar Lafontaine, ihr engster Berater und Ehemann, damals die SPD genau wegen Schröder und der Agenda verlassen und die LINKE gegründet, sondern auch der heutige BSW-Mitgründer Klaus Ernst. Die Hauptfeinde der Agenda machen heute einen neoliberalen Agenda-Prediger zum Spitzenkandidaten. Was eine Pointe!
Dazu kommt: Lafontaine hat Ende der 90er, während seiner kurzen Amtszeit als Finanzminister, den Ökonomen Heiner Flassbeck zu seinem Staatssekretär gemacht und pflegt bis heute ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm. Was die ökonomischen Auswirkungen für Europa angeht, gibt es in Deutschland keinen größeren Kritiker der Agenda als Heiner Flassbeck. Sein Buch »Nur Deutschland kann den Euro retten« hat genau das zur Hauptthese und ist noch heute jedem zu empfehlen.
Konflikte mit De Masi sind so vorprogrammiert. Schon auf der Pressekonferenz nahm er eine Agenda-Frage an Geisel zum Anlass, um klarzustellen, dass er sich mit Geisel vorher getroffen habe, um herauszufinden, ob die Positionen zusammenpassen. Da man eine Volkspartei werden wolle, seien Nuancen in den Positionen schon in Ordnung. So weit, so klar. Die Agenda-Frage ist aber keine Nuance, weil sich daran ganz grundsätzlich scheidet, wie man über seine Mitmenschen und das Funktionieren der Volkswirtschaft denkt.
Die Frage stellt sich: Warum also wählt Wagenknecht den bisher unbekannten Geisel für ein solch wichtiges Amt? Weil sich sonst kein SPDler gefunden hat? Weil man bewusst ein Gemischtwarenladen sein will, damit sich viele verschiedene Wähler ihre jeweiligen Gründe für die BSW-Wahl zurechtlegen können? Eine Antwort habe ich nicht. Nur so viel: Sein Verständnis von ökonomischen Zusammenhängen wird es wohl nicht sein.
Transparenzhinweis: Ich habe von 2020 bis 2021 im Bundestag als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Fabio De Masi gearbeitet.
Ich bin echt gespannt, wie sich diese Partei entwickeln wird.
Ich kann dem Projekt durchaus etwas abgewinnen, allerdings lassen Maurice' s Artikel über die Spannung der Entwicklung dieser Partei aber auch gehörige Zweifel aufkommen.
Schöne Grüße an die Community
Ich bin weiterhin irritiert, dass sich de Masi dieser Parteigründung anschließt. Er ist ein scharf analysierender Mann, den ich für seine Sachlichkeit schätze.
Frau Wagenknecht hat mich dagegen in den letzten Jahren mit wissenschaftsignoranten Aussagen zu Corona, der Verharmlosung einer übermäßigen Abhängigkeit von Russland und einem schon fast psychotisch wirkenden Schüren von Grünenhass schockiert.
Das ist für mich keine Basis für konstruktive Sachpolitik, welche verschiedene Kräfte für eine progressive Wirtschaftspolitik bündeln könnte, sondern nur eine populistische Verschärfung der Spaltung der Gesellschaft. Was erhofft de Masi davon?